4. Oktober 2007

 Der Mohn ist aufgegangen
 
 Von Sanja Ivekovics Mohnfeld hatte ich schon gehört, bevor ich zur documenta fuhr. Ausstellungsbesucher hatten sich darüber beklagt, dass der Mohn nicht blühe: "Da ist ja nichts." Worauf der Kurator frohlockte, dieselben Leute wären auch nicht klüger, wenn der Mohn zu sehen wäre.

Ich habe den Mohn blühend gesehen. Es waren Wege durch das Feld angelegt wie durch einen Barockgarten. Kunstkenner schritten auch auf den Wegen wie durch einen Barockgarten. Ich fand das eine schöne Aufwertung des sonst am Ackerrand missachteten Klatschmohns.

Ich fand es auch schön, dass mit dem Mohn der Acker mitten in die Großstadt gekommen war. Es war aber nicht nur der hiesige Acker. Mohn ist ja ständig in den Nachrichten. Und ein Zehntel dieses Mohns war nicht rot, sondern lila, also Schlafmohn. Ich hatte Schlafmohn noch nie gesehen. Plötzlich war der nicht mehr bloß im fernen Afghanistan.

Neben dem Feld war ein Lautsprecher angebracht, aus dem manchmal scheppernde Musik kam. Ich hatte es nicht bemerkt, aber laut Informationsschild gehörte die Musik zum Kunstwerk, das es also in zwei Versionen gab: je nach Uhrzeit mal mit, mal ohne Musik. Es handelte sich bei der Musik um von einem kroatischen Chor gesungene Revolutionslieder, kroatische oder afghanische, genau habe ich das nicht begriffen. Auch diese Information entnahm ich allein dem Schild, denn am Text oder am scheppernden Klang allein hätte ich das nicht erkannt. Nicht nur deshalb zog ich die Version ohne Musik vor.

Später habe ich den Mohn nochmal gesehen, verblüht. Da hatte sich auf dem Feld schon alles mögliche andere breit gemacht. Ein Botaniker zählte auf Anhieb siebzig Arten, darunter auch seltene. Die waren ganz ohne menschliches Zutun mitten in die Stadt gekommen. Die Natur zeigt ihre gewaltige Kraft eben nicht nur in Katastrophen.

Ich mag sich verändernde Kunstwerke. Aber selten habe ich etwas gesehen, das einen solchen Wandel durchgemacht hat, und am Ende etwas ganz anderes erzählte als am Anfang.

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