26. November 2008
Jonglieren mit null Bällen
Heute stand wieder ein Toter in der Fußgängerzone. Er stand auf einer Kiste, trug ein Kostüm mit Handschuhen und hatte das Gesicht ganz in einer Farbe geschminkt. Mich gruselt das.
Was ist unterhaltsam oder bewundernswert an jemandem, der sich nicht bewegt? Brauchen wir ein wenig Stillstand in einer Zeit, die es von uns verlangt, alle paar Monate neuen elektronischen Firlefanz zu haben, um mithalten zu können? Nein, Stillstand spüren die meisten sowieso schon, weil sie den neuesten Firlefanz nicht verstehen oder nicht bezahlen können. Unserer Zeit angemessen wäre eher ein Jongleur, der fünf, sechs Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten vermag. Ihm zuschauend verstünden wir, dass auch das eine Form von Stillstand ist. Deshalb sehe ich mir Fußball an. Es ist bewundernswert, was die Leute mit dem Ball im Zusammen- wie im Gegeneinanderspiel alles anstellen können, und es ist unterhaltsam, weil sie es längst nicht immer hinkriegen. Es ist sogar spannend, weil man nicht im Voraus weiß, wie so eine Fußballpartie ablaufen wird, außer dass die Bayern in der letzten Minute ein Tor schießen und am Ende immer die Deutschen gewinnen. Aber ich schweife ab.
Mich gruselt jemand, der sich bewegungslos zur Schau stellt, weil ich aus einer Zeit stamme, in der man sein Geld mit Aktivität verdiente, in Bewegung, unter Schweiß. Zurzeit arbeitslos, könnte ich ja Eintritt für meine Wohnung verlangen, damit Leute sehen können, wie wirklicher Stillstand aussieht. Aber das könnte ich nicht aus Überzeugung, denn wirklich wirklicher Stillstand ist das Dasein, oder vielmehr Nichtmehrsein, im Grab.
Mich gruselt aber auch jemand, der sein Gesicht in einer gleichmäßigen Farbe zu- und damit wegschminkt. Sind wir alle nicht schon gesichtslos genug in der Masse, als Kunden und besonders gegenüber den Behörden? Müssen wir uns nicht sowieso alle verstellen und eine Maske aufsetzen, weil unsere gewachsene, facettenreiche, widersprüchliche Individualität nicht mehr akzeptiert wird? Weil wir eine solche Welt zulassen?
Ich kann kostümierten Sichtotstellern nichts abgewinnen.
<< voriger Eintrag nächster Eintrag >>
Neueste Einträge
Deine Maus * Lorbeerbekränzt * Sperrmüll * Wenn der König türmt * Eindrücke
mehr
- - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Suche
- - - - - - - - - - - - - - - - - - -
<< >>
- - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Blogroll
Chronos Krumlov
Harry Oberländer
Timon of Athens
William Shakespeare
Milkman
Anna Burns
Was ist Populismus?
Jan-Werner Müller
The Collector of Treasures
Bessie Head
Rockroll
Artikulation
György Ligeti
Thick as Thieves
Larkin Poe
Like Water
Trillion
Pithoprakta
Iannis Xenakis
Little War, Little Less
James Apollo
- - - - - - - - - - - - - - - - - - -
zhanna (a) peripatetik.de