2. April 2012

Eine Rose erblüht auf hoher See
 
Zu den vielen Büchern, die ich im letzten Jahr geschenkt bekommen habe, gehört Mit geschlossenen Augen von Melissa P. Es kam von einer eher konservativen Grundschullehrerin, die fand, dass ich viel über Sexualität rede. Ich finde dies in der Tat ein wichtiges, interessantes, vielseitiges und unterhaltsames Thema, über das in der Öffentlichkeit noch nach lange nicht genug gesprochen wird, wenn man von Pornographie, anzüglichen Witzen und sensationslüsternen Reportagen absieht. Was ich meine, betrifft das Liebesleben langjähriger Paare, die unerfüllte Lust von Alleinstehenden, den Einfluss der Sexualität auf ganz andere Lebensbereiche, wie, sagen wir, die Rechtsprechung. Der "kleine Unterschied" und seine großen Folgen von Alice Schwarzer ist ein Buch in meinem Sinne. Ich habe es vor zwanzig Jahren von einem Mann bekommen, der heute Arzt ist.

Mit geschlossenen Augen beschreibt in Tagebuchform, wie ein 14-16-jähriges Mädchen aus Catania mit einer Reihe von Männern, hauptsächlich Studenten, sexuell verkehrt. Alle Männer, bis auf den letzten, über den wir nicht viel erfahren, verbinden Sex mit Gewalt und Anonymität. Das prägende Stilelement sind schiefe Metaphern: "der Mast der Liebe würde sich meiner geheimen Rose bemächtigen wollen." Abgesehen von Einsprengseln aus pubertärem Selbstzweifel und Unlust zum Alltag handelt es sich also um ein gedrucktes Internet-Forum.

Trotzdem hat dieses Buch weltweiten Erfolg gehabt. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass es angeblich autobiographisch ist. Das "wirklich Geschehene" ist ja zurzeit groß in Mode. Zu dieser Mode gehören Frauen, die offenherzig über ihre Sexualität schreiben. Nachdem sich allmählich herumgesprochen hat, dass Frauen überhaupt Spaß an Sex haben und haben dürfen, ist dies ein folgerichtiger Schritt. Ob da aber tatsächlich Frauen über etwas schreiben, das tatsächlich Frauen erlebt haben, lässt sich lesend nicht herausfinden. Wir können allenfalls sagen, ob wir einen Text plausibel finden.

Bei einem Sachbuch kommt Plausibilität zustande, indem die Methoden vorgestellt werden: "Wir haben eintausend fünfzehnjährige Mädchen gefragt, ob sie bereits einmal mit verbundenen Augen fünf Männer hintereinander geblasen haben. Eine bejahte, siebenundzwanzig verweigerten die Antwort." So eine Aussage könnte man glauben. Wenn man misstrauisch wäre, würde man am ehesten vermuten, es wären da die falschen tausend Mädchen befragt worden, nicht so schnell aber, dass die gesamte Befragung erfunden wäre.

Ein Roman erzeugt Plausibilität vor allem über die literarische Qualität, über die Sorgfalt, mit der er geschrieben wurde. "Der Mast der Liebe ragte steil empor. Mit vollen Segeln fuhren wir direkt in den Sturm unserer Leidenschaft." Oder: "Der Mast der Liebe ragte stolz empor. Doch das laue Lüftchen, das unsere Leidenschaft sein sollte, ließ die Segel schlaff herunter hängen. Traurig ging der Kapitän von Bord." Das wäre auch nicht toll, aber besser als die zitierte Kombination aus Masten, Rosen und Bemächtigung.

Eine Autobiographie dagegen hat nichts, was sie plausibel macht. Man kann glauben, was man liest, oder eben nicht. Das Interesse an einer Autobiographie entsteht aus einem zweiten Text: man weiß schon etwas über die Person. Man liest die Autobiographie der eigenen Großmutter, weil man die Großmutter gern hat, die Autobiographie von Emma Goldman, um mehr über den Anarchismus zu erfahren, die Autobiographie von Melissa P., weil man, Moment mal, obwohl man nichts weiter über sie weiß und ihre Geschichte überhaupt nicht einordnen kann.

Man liest sie nicht, weil einem etwas an Melissa P. läge, sondern weil einem etwas an der Person liegt, die einem das Buch geschenkt hat.

 

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