13. April 2012 Kryptische klassische Kurzprosa Vor zwanzig Jahren hatte ich die Angewohnheit, durch Buchläden und Kaufhäuser zu ziehen, um aus dem modernen Antiquariat interessant scheinende Bücher zu ziehen. Zum Teil waren auch Klassiker darunter, wie etwa eine Auswahl von Kawabata Yasunaris Handtellergeschichten. Heute bekomme ich meine Bücher aus dem antiquarischen Antiquariat, und es sind alles Klassiker, denn ein langsamer Leser muss Schwerpunkte setzen. Jedenfalls stehen seit zwanzig Jahren in den Regalen dieses langsamen Lesers reihenweise interessant scheinende Bücher und warten auf Zuwendung. Die Handtellergeschichten von Kawabata, besonders die frühen (in meiner Ausgabe sind alle Texte datiert), sind im Grunde Prosa-Haiku, geschriebene Tuschezeichnungen, Text-Bonsai. Geschichtenfragmente stehen nebeneinander. Am Ende kommt es oft zu einer plötzlichen Gefühlsaufwallung. Zu den späteren Geschichten hin werden die Texte europäisch konventioneller, von ihnen sind einige nur Beschreibungen eines Ereignisses oder einer Situation. In einer frühen Geschichte will die Tochter eines ermordeten koreanischen Zwangsarbeiters das Meer nicht sehen. Das ist kein Detail am Rande, sondern das Thema von "Das Meer". Erklärt wird nichts weiter, man kann nur vermuten. Eine Frau prostituiert sich in der Zeit, in der sie auf ihren Bräutigam wartet. Warum sie warten muss, wird nicht gesagt. Es geht in "Morgens die Zehnägel" aber hauptsächlich darum, dass sie kein Moskitonetz über der Schlafstatt hat. Ein Freier schenkt ihr ein neues, weißes Netz, am nächsten Tag kommt der Bräutigam, spricht angesichts des weißen Netzes von ihrer Reinheit, und sie schneidet sich daraufhin die Zehnägel. Ende der Geschichte. Was soll ich damit anfangen? Ich komme mir vor, als hätte ich noch nie Literatur gelesen. Wüsste ich mehr als nur Stereotypes über die japanische Kultur, könnte ich mit diesen Geschichten vielleicht mehr anfangen. Sicher aber tue ich ihnen Unrecht, wenn ich sie in die Japan-Schublade stecke und dort ersticken lasse, bloß weil ihnen die Luft über meinem Sofa nicht geschmeckt hat. Was Not tut, ist weitere Lektüre. Bestimmt finden sich in der Japan-Schublade weitere dünne Bücher.
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