20. April 2012

 Mann mit Pferdedecke
 
 Bei uns in der Stadt gibt es einen Mann, von dem ich schon vor zwanzig Jahren erwartete, dass er den nächsten Winter nicht überlebte. Ich kann ihn schlecht beschreiben, weil ich ihn noch nie genau angesehen habe. Er mich aber vielleicht auch nicht. Meine Vorstellung von ihm wird beherrscht von einer grauen Pferdedecke, die er immer umhängen hat und die, vorn übergebeugt wie er geht, den Rest seiner grauen Kleidung weit gehend verdeckt. Strümpfe habe ich an ihm noch nie gesehen, Schuhe nur im Winter. Sein Haar ist lang und ungekämmt wie seine Art sich zu bewegen. Es ist in den ganzen Jahren nicht grau geworden, weshalb er heute nicht anders aussieht als damals.

Manchmal hält er einem etwas hin, aber ohne etwas zu sagen oder zumindest ohne deutlich zu sprechen und ohne einen direkt anzusehen. So kam es, dass ich bei einer öffentlichen Veranstaltung mit ihm eine Zigarette teilte, die er selbst allerdings nicht rauchte, sondern nur hielt. Ein anderes Mal plauderte ich auf der Straße mit einem Bekannten, als jener ankam und ein Netz Zitronen zwischen unsere Füße warf, dem aber nichts weiter folgte, als dass das Gespräch mit meinem Bekannten etwas stockte, während der Mann seine Zitronen offenbar nicht wiederhaben wollte und bald weiter zog.

Wenn ich also je einen Verrückten gesehen habe, dann ist es dieser Mann. Ich habe ihn lange für einen Obdachlosen gehalten, bin aber nicht mehr so sicher, weil man Obdachlosigkeit gewöhnlich nicht so lange überlebt. Was seine Verrücktheit betrifft, bin ich jetzt auch ins Grübeln gekommen. Neulich kam er mir entgegen, bückte sich plötzlich und legte eine auf dem Gehweg liegende Bananenschale durch den Zaun hindurch in den neben dem Weg verlaufenden Vorgarten. Nein, dachte ich da, mein Bild von diesem Mann ist völlig falsch. Es handelt sich hier um einen ganz normalen Bürger wie uns alle, der nicht will, dass ein zufälliger Passant auf einer Bananenschale ausrutscht, und der im Alltag hier und da auf seine eigene Weise zum Gemeinwohl beiträgt.

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