13. November 2015

Lieblingsärger
 
Plötzlich war Gebre weg. Es war schön, mal für mich zu sein. Aber auf Dauer, das wusste ich schon, würde es mir in der Wohnung zu ruhig werden. Nach einigen Tagen machte ich mir Sorgen. Es stellte sich heraus, dass Gebres Freund in F./(Moder) verrückt geworden war. Gebre war sofort hingefahren, um ihm beizustehen. Als er wiederkam, freute ich mich wirklich und begrüßte ihn auf eritreisch mit Händedruck und Schulterstoß. Letzterer wird übrigens nicht handkussmäßig angedeutet, sondern mit vollem Kontakt ausgeführt.

Es ist gut, dass die Jungs zusammenhalten, denn allein machen sie dich ein. Das gilt weiterhin. Diese Woche war ein Mann aus Gebres Heimatstadt zu Besuch: "Mein Nachbar, mein bester Freund!" Zum Glück bin ich nicht darauf angewiesen, jedes Wort davon zu glauben. In der nächsten Nacht blieb ein Mann aus unserem Nachbardorf hier. Und immer: "Kommen, essen, zusammen!" Der aus der Heimatstadt war erst seit vier Wochen hier und sprach nur ein paar Wörter deutsch. Wir übten die Zahlen sechs bis zehn auf Tigrinya. Sonst aber esse ich lieber allein. Ich will auch mal meine eigenen Gedanken denken. Sehr oft sogar.

Ich teile meine Gedanken gern mit, das ist es nicht, und beschäftige mich auch gern mit den Gedanken anderer. Warum nicht beim Essen. Aber sie müssen über "Deutschland schön" und "viele kalt" hinausgehen und bedürfen einer gemeinsamen Sprache, die komplex genug ist, sie zu transportieren.

Gemeinsam sitzen die Jungs gern in der Küche, "kochen", essen und hören eritreische Schlager auf ihren Telefonen. Oder sie bellen in ihre Telefone hinein. Tigrinya ist ja eine Sprache, die gebellt wird. Es ist erstaunlich, wie man mit dem Älterwerden empfindlicher gegen fremde Geräusche wird. Der Sound dieser Fernsprecher ist aber auch furchtbar. Sie bräuchten vernünftige Lautsprecher, nur keine lauten.

Manchmal bin ich doch darauf angewiesen, etwas zu glauben. Rafaele wollte mit mir Grammatik üben, deutsche und tigrinische. Ein Viertelstunde vor unserem Termin - immerhin dachte er pünktlich daran - war plötzlich sein Fahrrad kaputt. Zu ihm sollte ich auch nicht kommen. So lerne ich die Sprache nie. Ich hatte meine Hoffnung auf Rafaele gesetzt, weil er in der Lage schien, Tigrinya nicht nur zu sprechen, sondern auch abstrakt Auskunft darüber zu geben. Ich weiß ja zum Beispiel nicht, was für Zeiten, Modi, Aspekte, Numeri und Generi die Verben haben. Und diese winzige Schrift, in der alle schreiben. Es gelingt mir nicht, alle ihre handschriftlichen Zeichen in den im Internet verfügbaren Zeichentabellen wiederzufinden. Nun suche ich nach einem anderen Lehrer, einem, auf den ich nicht hoffen muss, sondern auf den ich mich verlassen kann.

Zurzeit bemühe ich mich, für die Toilette "koffel" im Gegensatz zum üblichen "totouh" durchzusetzen. Manche klappen wenigstens die Brille hoch. Als ich aber neulich die Brille putzte, hatte ich plötzlich eine nasse Socke. Müssten die das nicht auch selbst merken? In Nordamerika gibt es den schönen Ausdruck "pet peeve", der meine gegenwärtige Stimmung gut fasst. Über dieses In-der-Gegend-Rumpinkeln kann ich mich gut ärgern. Es hat ja gestern ein Gerichtsurteil gegeben, das es einem Mieter freistellt, in seiner Wohnung im Stehen zu pinkeln, wenn er im Mietvertrag nicht vor den Folgen gewarnt wird. Ein barbarisches Urteil. Nein, im Ernst, ein richtiges Urteil, denn Freiheit muss sein. Aber dies ist ja meine Wohnung. Ich bestimme, und wenn ich nicht bestimme, verlange ich Rücksicht. Beim Gedanken daran, wie wir vor dreißig Jahren gelebt haben, gruselt es mich. Zum Glück hatten wir alle Mütter, Ehefrauen und Hausangestellte, die die Klos enturinierten. Was für eine Scheißhausarbeit.

Gebre hat sich inzwischen so eine Unterschichttruckermütze zugelegt, die man, hoch wie sie ist, locker aufs Haar legt, und trägt sie im Haus, natürlich mit dem Schirm nach hinten. Dabei sah das schon zu Salingers Zeiten schlimm aus: "I swung the old peak way around to the back - very corny, I'll admit". Gebre zeigt Ambition.

 

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