18. Februar 2022

Wenn der König türmt
 
Letztens war wieder Schachweltmeisterschaft, bald darauf noch eine und anschließend eine dritte. Die erste, ein Duell im klassischen Schach über mehrere Partien, gewann nach verbissenem Sitzen der körperlich überlegene Titelinhaber, groß und schlank, gelegentlich als Fotomodell gefragt, gegen seinen etwas älteren, leicht übergewichtigen Herausforderer.

Weltmeister im Schnellschach, den ein Turnier mit hundertsiebzig Teilnehmern hervorbringen sollte, wurde bei den Männern ein Teenager, dem ich nicht unterstelle, aus Unbefangenheit mutig gegen die Großen gespielt zu haben oder wegen seiner Jugend ein unter Druck wendigeres Gehirn zu haben als die Mittzwanziger und Enddreißiger im Wettbewerb. Ich suchte so eine Begründung, aber im Sport ist es eigentlich normal, dass mal Teenager gewinnen, wie Ulrike Meyfarth (nicht zufällig, sondern mit Weltrekord) im olympischen Hochsprung 1972, mal deutlich Ältere, wie, nach weniger erfolgreichen Jahren, Ulrike Meyfarth (nicht zufällig, sondern noch zehn Zentimeter höher springend) bei den Olympischen Spielen von 1984.

Ja, ich habe mir nur die Männer angesehen. Schach gehört zu den Sportarten, wie auch Reiten, Segeln und Motorsport, bei denen Frauen und Männer in denselben Wettkämpfen antreten. Weil aber die Basis bei den Frauen so schmal ist, sind sie auch in der Spitze kaum vertreten, ist also Hou Yifan die einzige Frau unter den ersten Hundert. Deshalb gibt es eigene Meisterschaften für die Frauen und schaue ich lieber den Männern zu. Zu sehen gibt es für mich Laien allerdings nicht viel. Interessant wird es für mich durch den Kommentar, der mir die Züge und taktische Alternativen erklärt.

Im Blitzschach, dem schnelleren Schnellschach, ging es darum, die Fehler, die nach dem Schachautoren Savielly Tartakower bereits auf dem Brett sind, zu finden, aber in der Eile weniger selber zu machen als der Gegner. Gewonnen hat diesmal ein Anfangdreißiger. Die Erklärung, dass man in dem Alter gerade beim Blitzen seine ganze Erfahrung zur Geltung bringen kann, erspare ich mir.

Zwischen den Partien habe ich mir das Drumherum angesehen, wer wann seine hygienische Maske trägt, wer wie sitzt oder auf den Ausgang seiner Partie reagiert, wer beim Nachdenken einen geschlagenen Bauern in den Fingern dreht. Es war vorgeschrieben, sich „stilvoll“ zu kleiden, also den Männern, den immergleichen gedecktfarbenen Anzug mit dem immergleichen einfarbigen Oberhemd zu kombinieren, den gleichzeitig im selben Saal spielenden Frauen, ein Kleid oder Kostüm, gern farbenfroh, zu tragen. Nicht alle Männer hielten das durch, die Frauen jedoch blieben brav und hängten ihre Handtasche wie im Café über die Rückenlehne.

Die drei Turniere klärten mich letzlich auch in einer Frage auf, derentwegen ich meine Kenntnisse der Schachregeln für unvollständig hielt. Zu diesem Sport gehört ja wie zu jeder gemeinschaftlichen Aktivität Ungeschriebenes. Man gibt sich vorher die Hand, man spielt die Figur, die man angefasst hat, es sei denn deutlich, dass man sie bloß zurechtrücken wollte, man stört die andere Person nicht beim Nachdenken usw. Anderes ist offen. Man kann die Figuren vom einen Feld hochheben und auf das andere setzen, man kann sie aber auch schieben. Man kann beim Schlagen die eigene Figur hochheben, die andere mit derselben Hand nehmen und die eigene mit immer noch derselben Hand dort hinsetzen, bevor man die geschlagene Figur beiseite stellt, man kann aber auch zuerst die andere Figur vom Brett nehmen und dann die eigene ziehen.

Wie ist es aber bei der Rochade? Der König wird zuerst um seine zwei Felder nach außen gezogen, was der Gegenseite klarmacht, dass man gleich auch noch den Turm ziehen wird. Bewegt man den nun über den König hinweg oder an ihm vorbei? Innen vorbei wird der Turm nicht ziehen können, weil dort den König schützende Bauern stehen – sonst sollte man nicht rochieren. Auf dem Weg außen vorbei aber verließe der Turm das Schachbrett, als wäre er geschlagen. Und über den König hinweg würde der Turm sich über die wichtigste Figur erheben. Es geht bei diesem Detail also um nichts weniger als die Würde des königlichen Spiels. Bei dessen Spitzenkönnern fand ich aber statt Würde Wurschtigkeit. Mal wurde der Turm hinüber-, mal außen vorbeigezogen, womöglich, das habe ich nicht kontrolliert, von demselben Spieler in der einen Partie so, in der anderen so. Statt solider Feudalherrschaft die totale Anarchie. Aber Kleiderordnung (bürgerlich).

 

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