1. Januar 2012

Nekrolog 2011, Teil 1
 
Nachdem alle möglichen Jahresrückblicke über uns ergossen worden sind, ist das Jahr tatsächlich zu Ende gegangen. Jetzt bietet sich erstmals die Gelegenheit, das ganze Jahr rückblickend zu erfassen. Wie in den Jahren zuvor sind wieder viele bewegende Dinge geschehen, zum Teil Unwiderrufliches. Menschen sind geboren worden, Menschen sind gestorben. Manche sind schon während ihrer Geburt gestorben, andere werden hundert Jahre alt werden, Erstaunliches entdecken, Nützliches erfinden, Bewegendes schaffen, Grausiges verbrechen, unermesslichen Reichtum erwerben und auf solche Weise weltbekannt werden. Sie sind es aber noch nicht, und deshalb kann ich nichts weiter über sie sagen, außer dass jedes der Neugeborenen eine Bereicherung für die Menschheit ist und, soweit ich etwas zu sagen habe, willkommen auf der Welt.

Über einige derer, die gestorben sind, kann ich hingegen einiges im Einzelnen sagen, weil sie Außergewöhnliches getan und mir, auch wenn ich sie nicht persönlich kannte, etwas bedeutet haben.

Bei Pete Postlethwaite bewirkte schon das grobe, von einer großen Nase und gewaltigen Jochbeinen beherrschte Gesicht, dass ich dachte, der Mann kann spielen. Außerdem bewirkte es, dass ich mir den Mann und sein Gesicht merken konnte. In allen seinen Filme, die ich gesehen habe, war er mit vollem Ernst bei der Sache, am schönsten in Among Giants, in dem es um das Neuanstreichen von Hochspannungsmasten geht. Die Geschichte ähnelt der von Manpower, aber die Sentimentalität eines Edward G. Robinson geht Postlethwaite völlig ab. Ich mag den Film auch, weil er ein Arbeiterfilm ist, in dem die Arbeiter nicht bloß in schlechten Verhältnissen leben, sondern vor allem arbeiten.

Die Arbeit von Arbeitern war auch Eva Strittmatter nah, die ich erst nach ihrem Tod empfohlen bekam und die näher zu entdecken mir noch bevorsteht. Ihre Gedichte solle man "in der Küche beim Kochen lesen"; sie sympathisiere "mit Schrubber und Besen", schreibt sie in Bürde. Es ging ihr also weniger um die harte Arbeit von waghalsigen Männern als um das gefährliche Tun in Küchen und das ungesunde Hantieren mit Putzgeräten und ihren stets rückenkrümmend kurzen Stielen, um Tätigkeiten, mit denen ich mich auskenne. Später werde ich ihr Werk wahrscheinlich formal zu schlicht finden.

In meiner Jugend gab es eine Band namens Japan, die zuerst überkandidelt und völlig scheiße war, dann aber in kurzer Zeit sich herunterkandidelte und mit großer klanglicher, melodischer und rhythmischer Sensibilität zeigte, was Popmusik sein kann, wenn man sich traut, und trauen tun sich viel zu Wenige. In einer Konzertkritik las ich einmal, sie hätten nicht zu laut gespielt. Auch das trauen sich nur Wenige. Der gebürtige Zypriot Mick Karn war ein Viertel dieser Mutigen, der Bass.

Jack LaLanne verkörperte dieses amerikanische positiv denkende Do-It-Yourself, dem ich so skeptisch gegenüber stehe. Er ernährte sich vegetarisch, was ich auch hinkriegen würde, und zuckerfrei, was für mich unvorstellbar ist, und trieb täglich Fitness-Übungen, was alles zusammen keinesfalls gut sein kann - ich weigere mich, das zu glauben. Er wurde 96 Jahre alt.

Vor gut zwanzig Jahren habe ich einmal ein Referat über Daniel Bell, den Theoretiker der postindustriellen Gesellschaft, und seine Theorien gehört. Es war sehr interessant, aber jetzt ist Bell weg und die industrielle Gesellschaft wieder da. Also, nicht hier da, sondern da da, nämlich in China, Indien und Mexiko. Und in der Landwirtschaft, die ja gerade erst richtig industrialisiert wird.

Als ich neulich in dem Konzert eines klangexperimentierenden Gitarristen aus New York war, stellte ich mich bei der nachfolgenden Diskussion mit dem Künstler als seiner Musik völlig fremd vor, da ich sonst Country zu hören gewohnt sei. Er erwiderte, er denke auf der Bühne nicht, aha, da ist ein Country-Typ, jetzt spiele ich mal auf die-und-die Weise. Vielen Dank. Wir Country-Typen verloren im letzten Jahr Charlie Louvin, die verbliebene Hälfte der Louvin Brothers. Vor fünfzig Jahren, also vor für Country-Verhältnisse Kurzem, legten sie mit E-Gitarre und engelsgleichem Gesang die Grundlage für alle Langhaarigen, die es auch einmal mit volkstümlicher amerikanischer Musik probieren wollten, hielten dabei aber treu zu Gott. Heute, also nur, für Country-Verhältnisse, kurz darauf, finde ich sie hauptsächlich zu schnell. Die Nuancen, die man heutzutage auszukosten beliebt, erledigten sie einfach mit einem geschickten Sangesschlenzer auf den Punkt.

Der Tod Arnošt Lustigs erinnert mich vor allem daran, dass ich zu wenig lese. So viele Schriftsteller sind bereits diesen sinnlosen Tod gestorben!

Jane Russell war eine der prominenten Toten, die mir nichts bedeuteten. Sie war die Dunkelhaarige in Gentlemen Prefer Blondes.

Günter Mast, der die Einführung von Trikotwerbung im deutschen Fußball durchsetzte, brachte es auch fertig, dass unsere Klassenmannschaft im Fußball, also vierzehn-, fünfzehnjährige Jungs, Werbung für Schnaps auf ihren einheitlichen Hemden hatte. Ich möchte nicht lügen und sagen, ich vermisste alle, die im letzten Jahr gestorben seien.

Annie Girardot wurde geistig schon länger vermisst. Ich werde nicht vergessen, wie sie in einem stinknormalen Auto durch Liste noir jagt, um die Gangster zu erwischen, die ihren Sohn hereingelegt haben. Diese wütende Rächerin soll ihr erst mal jemand nachmachen, ohne dabei grotesk oder monströs oder gar glamourös zu wirken, sondern einfach nur stark.

Von Günter Amendt hatten meine Eltern Sexfront, meine Kinder Das Sex-Buch. Ersteres half mir, einige Ängste zu überwinden und andere gar nicht erst zu bekommen, Letzteres bewirkt hoffentlich Vergleichbares. Mein Vater hat von mir nach seinen ersten Experimenten mit Marihuana eines von Amendts Drogenbüchern bekommen. Ob er darin gelesen hat, weiß ich nicht, aber für Aufklärung ist jedenfalls nie zu spät und, das fand wohl auch Amendt, kaum einmal zu früh. Mit ihm ist ein ganz Großer gestorben.

 

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