4. Januar 2012

Nekrolog 2011, Teil 2
 
Ich schreibe weiter über die im letzten Jahr Verstorbenen. Bin ich damit zu spät dran? Tja, sie sind jedenfalls, soweit ich gehört habe, immer noch tot. Und ihre Bedeutung bleibt auch vorerst. Eisbär Soundsos Bedeutung ist bereits verblasst, deshalb lasse ich ihn hier aus. Seine Leistung war es zu leben, und das ist nichts Geringes, oft sogar sehr schwer zu bewerkstelligen, wobei ich weniger an den deutschen Lehramtsstudenten denke, der keine Anstellung findet, als an den brasilianischen Diamantenschürfer, der eine hat. Schweife ich ab?

In 12 Angry Men sitzen zwölf Männer um einen Tisch und diskutieren. Am Anfang und Ende des Films gibt es zwei kurze andere Szenen, aber die meiste Zeit über zeigt die Kamera nur den einen Raum mit dem einen Tisch und den zwölf Männern, ein paar Gläser Wasser, etwas zu schreiben, zwei Messer, einen Gerichtsdiener. Was die zwölf Männer in den neunzig Minuten, denen wir ihnen zusehen, tun, ist spielen, spielen, spielen. Anscheinend handelt der Film von Vorurteilen und falschen Verdächtigungen. Auf der Oberfläche aber, die oft vernachlässigt und geringgeschätzt wird, weshalb viele Leute sie gar nicht wahrnehmen, ist es ein Film über die Schauspielkunst von zwölf Männern. Viele von ihnen hat man nie zuvor und nie wieder so brilliant gesehen. Das ist Sidney Lumets Verdienst. Dabei sollte man seine anderen Filme nicht übersehen, wie z.B. The Offence, der so subtil einen Polizisten bei der Aufklärung von ihm selbst begangener Gewaltverbrechen zeigt, dass, wenn man sich im Internet umhört, die meisten Leute eine andere Filmfigur für den Täter halten.

Grete Waitz war für mich eine Inspiration in einer Zeit, als Frauen gerade zu Marathonläufen zugelassen worden waren. Sie war so schnell, dass ich dachte, in ein paar Jahren haben die Frauen die Männer eingeholt. Der Abstand zwischen dem schnellsten Mann und der schnellsten Frau hat sich in den vergangenen dreißig Jahren zwar von 17 auf 12 Minuten verringert, doch ist das viel weniger, als ich erwartet hatte. Das Gefühl der Inspiration aber bleibt.

"Oh, bondage, up yours" und dazu ein Saxophon, wie man es nicht schriller quäken lassen kann. Ich war ein Punk, bevor du ein Punk warst, und X-Ray Spex waren eine der weniger bekannten Bands. Eine Platte, eigentlich nur das eine Lied, und es wurde nicht oft gespielt. Um so schöner war es, im letzten Jahr die warmherzigen Nachrufe auf Poly Styrene zu lesen. Ich war nicht allein mit meiner Zuneigung zu dieser Musik, und diese war lange nicht das Einzige, was Poly Styrene gemacht hat.

Osama bin Laden wird fehlen. Man konnte sich so herrlich über ihn streiten wie über kaum jemand sonst. Nun braucht die Welt einen neuen Dr. No. Ist sie ohne Osama sicherer? Natürlich nicht. Wie oft soll man denn noch erklären, dass die Geschichte nicht von großen Männern gemacht wird! Fehlen wird der Popstar Osama, der Pin-Up-Boy des gottesfürchtigen Mordens, der erhobenste (ich weiß: erigierteste) Zeigefinger Arabiens.

Gunter Sachs gab ein schönes Beispiel dafür ab, welche Kreativität dadurch frei gesetzt werden kann, dass ein Mensch genug Geld hat. Das Bemerkenswerte ist ja nicht, welch ein guter Fotograf er war, sondern wie viele Leute auch gute Fotografen sein könnten, wenn sie Zeit und Geld, also die Muße, hätten, sich in die Materie zu versenken und über das bloße Knipsen hinauszukommen. Oder zu Malen, zu schreiben, zu erfinden, globale Probleme zu lösen. Moment, für Letzteres bräuchten wir alle zusammen Muße, um die Lösungen gemeinsam anzugehen, sonst wirds nix.

Als Zuschauersport sind mir die Straßenradrennen am liebsten. Deshalb werden mir Wouter Weylandt und Xavier Tondo fehlen. Ersterer ist beim Giro d’Italia zu Tode gestürzt, was bedeutet, dass dieses Rennen zu gefährlich ist. Ich will beim Zuschauen darum bangen, ob mein Favorit gewinnt, nicht ob er überlebt. Über Tondo heißt es, er habe für die Tour de France trainieren wollen und sei verunfallt, als er dafür erstmal sein Auto aus der Garage habe holen wollen. Wieso man ein Auto zum Radfahren braucht, verstehe ich nicht. Ich nehme zum Fahrradfahren ein Fahrrad und finde, alle anderen sollte es ebenso halten.

In meiner Jugend wurde in Discos manchmal Gil Scott-Herons B-Movie gespielt. Ich fand es leidlich interessant, kaufte mir die Platte aber trotzdem irgendwann. Ich kann auch nicht mehr sagen, wie es weiterging, jedenfalls fand ich ihn mit der Zeit immer besser: eine coole Stimme, die zu cooler Musik interessante Sachen erzählt, Rap also. Seine Familie hat es in alle Winde verschlagen: der in Jamaika geborene Vater war der erste schwarze Spieler bei Celtic Glasgow, ein Onkel kämpfte im Zweiten Weltkrieg für Norwegen, ehe er nach Kanada zog, ein Bruder blieb in Detroit und wurde aus einem fahrenden Auto erschossen, er selbst wechselte lange zwischen Kokainland und dem Gefängnis. Vor allem aber wird er, solange die Verhältnisse sich nicht grundlegend ändern, in einem Recht behalten: die Revolution wird nicht im Fernsehen kommen, die Revolution wird live sein.

Ricky Bruch, dessen fast dreißig Jahre alter schwedischer Rekord im Duskuswerfen immer noch steht, hat den Weltrekord lediglich einmal einstellen können. Alleiniger Weltrekordhalter war er ab 1976 im Gummistiefelweitwurf. Seine Marke ist im Vergleich zu heutigen Leistungen lächerlich, aber dass ein olympischer Treppchensteher sich für solchen ausgemachten Quatsch hergibt, lustig.

Der Tod Jorge Semprúns erinnert mich vor allem daran, dass ich zu wenig lese. Ich kann seine Bücher natürlich auch jetzt noch lesen, aber es folgen ja junge Leute nach, die auch ganz fantastische Sachen schreiben.

Bis heute vermag ich nicht zu sagen, was ich von Leiber und Stoller halten soll. Waren sie Genies oder Diebe? Vielleicht sind Genies immer auch Diebe, was man übrigens umgekehrt nicht sagen kann. Die Coasters, die eng mit ihnen zusammen gearbeitet haben, finde ich uneingeschränkt klasse. Das war intelligente, witzige Popmusik, sauber vorgetragen, allerdings auch sonst sehr sauber. Es gibt die Coasters immer noch, aber ihr Leadsänger Carl Gardner ist nicht mehr dabei, und Jerry Leiber würde ihm auch keine Texte mehr schreiben.

Eins noch, es ist wahrscheinlich nicht wichtig, aber, wissen Sie, meine Frau besteht darauf: Peter Falk ist im letzten Jahr auch gestorben.

 

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