7. Januar 2012

Nekrolog 2011, Teil 3
 
Während ich über die schreibe, die im letzten Jahr gestorben sind, freue ich mich darüber, wer alles noch lebt, zum Beispiel die schwer kranke Etta James. Ohne ihr Vorbild wäre Janis Joplin sicher keine so aufregende Sängerin geworden. Ohne die Songs von Jerry Ragovoy wohl auch nicht, denn "Piece of My Heart," "My Baby," "Get It While You Can," "Cry Baby," and "Try (Just a Little Bit Harder)" sind, finde ich, mit Abstand ihre besten Lieder. Schön, wie diese Musik allerlei Grenzen ignorierte: ein Weißer von der Ostküste der USA, der selbst nicht sang, schrieb seine Lieder hauptsächlich für Schwarze von der Ostküste, hatte aber den größten Erfolg, als eine weiße Südstaatlerin damit an der Westküste auftrat.

Von Ágota Kristóf habe ich immerhin zwei Bücher gelesen. Sie schrieb auf französisch, obwohl sie die Sprache erst als Erwachsene gelernt hatte, als Flüchtling, gezwungenermaßen. Ob sie auf die mannigfaltigen Ausdrucksmöglichkeiten dieser Sprache bewusst verzichtete oder sie einfach nicht beherrschte, kann ich nicht sagen. Ich kann aber sagen, dass ihre Bücher zeigen, wie wenig man braucht, um einen guten, spannenden, sättigenden Roman zu schreiben, und wie wenig Seiten so ein Roman braucht.

Roman Opalka hat Zahlen gemalt. 1965 fing er bei "1" an, 2011 hörte er bei "5607249" auf. Er hat mit diesen Zahlen tausende von Leinwänden vollgemalt, in Weiß auf Grau, die Zahlen dazu auf Tonband gesprochen, die verwendeten Pinsel gesammelt und sich selbst täglich fotografiert. Den Computermogulen, die heute ihre Kunden dazu bringen wollen, ihr gesamtes Leben im Internet zu dokumentieren, war Opalka um vierzig Jahre voraus, indem er ein Leben führte, das man gut speichern kann, und indem er es nicht auf Festplatten unterbrachte, die beim nächsten elektromagnetischen Sturm schon wieder zusammenbrechen, sondern mittels handfester Objekte in Museen auf der ganzen Welt verteilte. Als Kunst finde ich das großartig, als Leben völlig krank. Der Druck einer seiner Leinwände hängt bei mir. Was sagt das über mich?

Helmut Schmidt, Hans Apel, Volker Rühe, Peer Steinbrück: es scheint in Hamburg ein Nest zu geben, aus dem immer wieder solche eisig-markigen Typen gekrochen kommen, die meinen, Politik machen heiße, andere herum zu kommandieren, und die sich vielleicht deswegen besonders gut nicht nur für das Verteidigungs-, sondern auch für das Finanzministerium zu eignen scheinen. Hans Apel ist später Christ geworden, aber da glaube niemand, einer von der verweichlichten evangelischen Sorte. Nein, das musste schon das unverdünnte Luthertum von einer der Rechthabersekten sein.

Steve Obst hat ja eine Menge umfangreicher Nachrufe bekommen. Ich benutze einen seiner angebissenen Computer und gebe gern zu, dass er besser als die von den meisten anderen Firmen funktioniert. Ich bin aber kein Anhänger stalinistischen Geschäftsgebarens, das zurzeit sowieso um sich zu greifen scheint: paranoid, verlogen, oppressiv, totalitär, aggressiv, die ganze Büchse, auch wenn dahinter einmal eine gute Idee gestanden haben mag.

Nicht nur das Werk von wichtigen Schriftstellern ignoriere ich sträflich, sondern auch das von einigen Musikern. Ich wußte seit Jahrzehnten, wer Bert Jansch war, wenn ich mir auch nicht darüber im Klaren war, welch großen Eindruck er als Gitarrist auf seine Kollegen machte. Jetzt bleiben mir natürlich nur noch Konserven seiner Kunst, live ist vorbei.

Auf mich schon immer großen Eindruck gemacht hat Muammar al-Gaddafi. In einem Alter, in dem andere noch überlegen, ob sie überhaupt das Richtige studieren, errichtete er seine eigene Diktatur und legte sich mit den westlichen Ölmultis an. ("Multi" ist ein altes Wort für "Global Player" aus der Zeit, als "Globalisierung" noch "Imperialismus" hieß.) Und weil er sich so schön durchgeknallt gab, hatte man immer etwas zum Lachen, obwohl er eigentlich ein ganz übler Verbrecher war. Kein Wunder, dass Herr Berlusconi sich gut mit ihm verstand.

 

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