10. Januar 2012

Nekrolog 2011, Teil 4
 
Der Tod hat, so scheint es, hat gegen Ende des Jahres noch einmal kräftig Gas gegeben - Moment, das sollte ich als Deutscher nicht sagen - er hat noch einmal eine ordentliche Schippe draufgelegt - halt, schiefe Metapher - er hat also noch einmal gehörig zugelangt - nein, jetzt bin ich verunsichert. Er war jedenfalls nicht nur in Somalia unterwegs.

Woher nimmt ein Mensch den Mut, schon als Student eine Zeitschrift wie text + kritik zu gründen, die inzwischen seit Jahrzehnten wichtigste Zeitschrift zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur? Welch ein Liebhaber muss ein Mensch sein, dass berühmte AutorInnen stundenlang mit ihm sprechen mögen, obwohl er selbst keiner von ihnen ist? Wird text + kritk ohne ihren einzigen bisherigen Herausgeber zurechtkommen? Wie wird sich die deutschsprachige Literaturszene ohne Heinz Ludwig Arnold entwickeln?

Als ich klein war, hat mich mein Vater manchmal zum gemeinsamen Fernsehen geweckt. Es war, glaube ich, morgens um drei, dass wir in Schlafanzügen vor dem Gerät saßen und zusahen, wie zwei Männer sich prügelten. Einer der Männer war immer der Größte und Schönste, der andere war zweimal Smokin' Joe Frazier. Den ersten Kampf der beiden, den Smokin' Joe gewann, habe ich nicht gesehen. Da war ich noch zu klein. Später habe ich mir nie wieder ganze Boxkämpfe angesehen, aber ich besitze eine DVD mit Aufnahmen von damals.

Manchmal braucht es lange, bis ich tolle Musik wahrnehme. Im Falle von Doll by Doll hat es fünfzehn Jahre gedauert, da gab es die Band schon längst nicht mehr. Sie hatten Post-Punk gemacht und ihr Sänger hatte eine Stimme, so groß wie ein Haus und sehr männlich. Später habe Jackie Leven einmal ohne Band live gesehen. Dafür bin ich dreißig Kilometer mit dem Rad gefahren, denn bei uns auf dem Lande ist nicht viel los, und dreißig Kilometer zurück, denn Busse fahren abends natürlich nicht mehr. Ich war von der Musik nicht so beeindruckt und erinnere mich vor allem an den eigenartigen Witz der Geschichten, die Jackie Leven zwischen den Liedern erzählte.

Lynn Margulis war meine Heldin, weil sie, während alle Welt vom Kampf ums Dasein faselte, die Bedeutung der Symbiose betonte, jedenfalls bei der Entsteheung der modernen Körperzelle. Als wissenschaftliche Erkenntnis mag ihr Forschungsergebnis wenig Bedeutung für den Alltag des Alltagsmenschen haben, für unser Denken ist es mindestens bezeichnend, dass sie sich letztlich durchgestzt hat.

Wassili Alexejew gehörte, wie etwa auch Serhij Bubka, zu den gewitzten Sportlern, die ihre grandiose Überlegenheit in scheibchenweise verbesserte Weltrekorde umgemünzt haben. Scheibchenweise liegt bei einem Gewichtheber natürlich nahe, obwohl ich da eher von rechten Scheiben spräche, aber es geht eigentlich darum, dass die "Staatsamateure" für jeden Weltrekord eine Prämie bekamen, egal ob sie den Rekord eines Amerikaners oder nur den eigenen verbesserten. Alexejew erhielt diese Prämie achtzig Mal.

Die einzige Oper, die ich mir auf der Bühne angesehen habe, hat Ludwig van Beethoven komponiert. Die einzige Oper, die ich mir im Kino angesehen habe, hat Ken Russell gedreht. Danach habe ich noch viele überladene und ausgeflippte gesehen, aber keiner so gut funktioniert wie Tommy. Das mag an der Musik der Who gelegen haben, aber auch am Regisseur, der vielleicht wusste, was er da warum überlud und ausflippen ließ. Es wäre Zeit, mal seine anderen Musikfilme zu sehen, sämtlich über Komponisten der Romantik.

Als ich klein war, waren das Schönste im Fernsehen immer die Filmchen mit dem kleinen Maulwurf, und ich glaube, ich bin damit nicht allein. Zdenek Miler hieß der Mann hinter dem Maulwurf. Er war neunzig, was ja wohl das mindeste Alter ist, das so ein guter Mensch erreichen sollte.

Von Christa Wolf habe ich Störfall gelesen, nachdem es mir jemand geschenkt hatte. Ich fand das Buch ganz gut. Viele Leute schimpfen aber auf Christa Wolf, vielleicht weil sie eine Frau war, das ist ja für viele Grund genug, oder vielleicht weil sie sich traute, öffentlich nachzudenken. Nachdenken, habe ich schon öfter beobachtet, soll man nicht. Man soll von vornherein Bescheid wissen, von vornherein die richtige Meinung haben. Wenn ich für jedes Mal, wenn ich den Satz: "Darüber muss ich gar nicht nachdenken", oder den Satz: "Das muss ich gar nicht ausprobieren", einen Penny bekommen hätte, wäre ich jetzt Brite.

Eines meiner Lieblingsbücher, als ich klein war, hieß Kleine Schwester für Fränzi und handelt von einem kleinen Dachs, der sich von den Eltern wegen des Babys vernachlässigt fühlt und auswandert, unter die Spüle. Geschrieben hatte es Russell Hoban, von dem ich fünfundzwanzig Jahre später wieder hörte, als mir ein belesener Mensch Hobans Riddley Walker als seinen Lieblingsroman vorstellte. Darin wird in vereinfachtem und verfremdetem Englisch England zweitausend Jahre nach dem weltweiten Atomkrieg geschildert. Es soll so ein tolles Buch sein, dass ich nicht anfange, es zu lesen, aus Furcht, es bald ausgelesen zu haben.

Ein Nachdenker nach meinem Geschmack war auch Christopher Hitchens, ein Brite, der die US-Staatsbürgerschaft annahm, ein Linker, der sich zu den Neokonservativen gesellte. Er machte sich seine eigenen Gedanken ohne Rücksicht die Freunde oder Feinde, die er sich mit seinen Reden machte. Ich war selten seiner Meinung, weil ich vielleicht nicht so genau über Dinge nachdenke, wie er es tat, oder vielleicht weil ich meine Grundwerte anders gewichte und meine Feinde gern am Leben lasse.

Das heißt nicht, dass ich um Kim Jong-Il trauerte. Der fehlt mir überhaupt nicht. Wie es scheint, fehlt er auch der nordkoreanischen Diktatur nicht. Da geht ja alles weiter wie gehabt, wollte sagen, da steht alles weiter wie gehabt.

Von den Kapverdischen Inseln hört man selten etwas und wenn, dann nur Gutes. Das liegt vor allem an Cesária Évora, von der es nun allerdings auf längere Zeit nichts Neues mehr geben wird.

Etwas Besonderes an der Tschechoslowakei war, dass der erste und der letzte Präsident des Staates eigentlich Schriftsteller waren. Während diese Zunft nicht unbedingt die besseren Politiker hervorbringt, sondern gern auch einmal Leute vom Schlage eines Radovan Karadzic, hatte die Tschechoslowakei Glück, vor allem mit Václav Havel. Cool fand ich, dass er Rockmusik wirklich mochte. Er zeigte sich nicht wie mit den Scorpions als wichtiger Wirtschaftsfaktor seines Heimatbundeslandes oder blies Saxofon mit den flauschig gespülten Resten von Fleetwood Mac, sondern traf sich mit Lou Reed, der, man muss ihn nicht mögen, als Musiker doch mehr Respekt verdient hat als die oben genannten.

Günter Grass, der ja mal Bildender Künstler gelernt hat, hat den abstrakten Expressionismus eines Mark Rothko oder James Pollock einmal als bunten Kitsch bezeichnet. Ich bin da anderer Ansicht, lasse dieses Verdikt aber gern für den bunten Kitsch eines Keith Haring oder James Rizzi gelten. Rizzis Bilder machen sich auf großformatigen Kalendern ebenso gut wie auf Briefmarken oder als Produktdesign. Schon Henri Matisse hat sich ja an Tapetenmustern versucht. Vielleicht sollte ich Rizzi in dieser Tradition sehen.

Nun habe ich gut vierzig Toter gedacht. Etwa ein Drittel von ihnen ist an Krebs gestorben. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Krankheit so häufig ist, und finde es beruhigend. Wenn praktisch alle Krebs kriegen, jedenfalls ab einem gewissen Alter, und man muss die einberechnen, die nicht dran sterben, muss man sich nicht so sehr davor fürchten, weil man wenigstens nicht allein damit ist. So gesehen, ist Krebs, jedenfalls ab einem gewissen Alter, ähnlich wie der Tod, etwas Furchtbares, aber eben auch Normales, fast Zwangsläufiges. Was mich betrifft, kann beides trotzdem erstmal warten.

 

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