13. Januar 2012

Schädelvermesser
 
Zu den vielen Büchern, die ich im letzten Jahr geschenkt bekommen habe, gehört Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel. Es spielt in den Fünfzigerjahren, der für mich uninteressantesten Zeit Deutschlands und handelt von einer Flüchtlingsfamilie aus Ostpreußen, der für mich uninteressantesten Sorte Mensch. In meiner Jugend bekam man andauernd erzählt, wie schlimm die Zeit nach dem Krieg war, wie schrecklich der Russe und wie furchtbar Flucht-und-Vertreibung. Ganz selten ging es um den Nationalsozialismus und wenn, dann waren es immer andere, oder es ging darum, "endlich einen Schlussstrich" zu ziehen. Solche Sachen will ich nicht mehr hören. Ein Schlussstrich war übrigens nicht nötig, wenn man gerade einen jungen Mann mit langen Haaren ins Gas wünschte. Oder einen Mann, der einen anderen Mann liebte. Oder wenn ein "Zigeuner" sein Recht verlangte. Oder wenn ein "Erbkranker" rehabilitiert weden wollte.

Genug der Abscheu, denn bei diesem Roman sollte ich mich mit meiner ersten Einschätzung irren. Das hängt sicher mit der Perspektive zusammen. Ein nach dem Krieg geborener Junge, zurzeit Einzelkind, erzählt, wie seine Eltern den auf der Flucht verschütt gegangenen älteren Bruder suchen und in einem Waisenhaus wieder gefunden haben wollen. Sich über Jahre hinziehende Abstammungsuntersuchungen, über die der Vater stirbt, führen schließlich zu einem negativen Ergebnis, zunächst sehr zur Erleichterung des Einzelkindes. Das ist aber nur der Inhalt und, wie bei jedem guten Roman, eher nebensächlich.

In einer kreisenden Sprache, die viele Sachverhalte mehrmals mit unterschiedlichen Formulierungen beschreibt, entwirft dieser Roman auf wenigen Seiten eine Kleinstadtwelt der Fünfzigerjahre. Scham und Schweigen herrschen. Wenn über die Vergangenheit gesprochen wird, dann über die Flucht aus Ostpreußen. Der Nationalsozialismus ist kein Thema. Das muss er auch nicht sein, denn er lebt und gedeiht in diesem Buch in Gestalt der Erbbiologen, die ihr Handwerk gründlich gelernt haben und, allerdings ohne sich zu schämen, wie gehabt weiter betreiben. Die von ihnen in der Sprache des Unmenschen erstellten Gutachten stellen hier die längsten Abschnitte dar.

Schön ist auch gezeigt, wie sehr Kinder in der fünfziger Jahren ihren Eltern im Weg waren. Vielleicht hat auch das mit der Scham zu tun, die man vor den eigenen Kindern so schlecht verbergen kann, weil sie ja immer da sind und einen sehen und außerdem selbst nicht diesen Grund zur Scham haben.

 

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