16. Oktober 2020

Unentwirrbar gespalten
 
Wir bremsen, um die Wracks und das Blut auf der Gegenseite besser sehen zu können, fahren aber weiter auf unserem Weg zu einem respektvollen Umgang aller mit allen.

Früher war alles scheinbar besser, weil ich noch nicht das Zipperlein, sondern eine Zukunft hatte. Tatsächlich aber wurden Kinder geschlagen, nicht aus Zorn, sondern als Erziehungsmaßnahme; wurden Frauen ausgelacht, die sich etwas trauten, Mitreden etwa oder Autofahren; wurden Schwule verprügelt und als "Päderasten" verunglimpft; wurden langhaarige Männer verprügelt und als "Bombenleger" beschimpft; wurden Migranten als Aushilfskräfte behandelt und in schlechtem Deutsch angesprochen: "Ali, du nix verstehen?"; brüllten Politiker im Bundestag, als wäre ihr Mikrofon defekt; wurden Ehefrauen straflos vergewaltigt; wurden seelisch Behinderte eingesperrt. Falschen Respekt gab es vor der "Obrigkeit", Lehrer und Ärzte inbegriffen.

Es war natürlich nicht alles schlechter, als Kranke und Erwerbslose nicht als faul galten, als stillende Mütter nicht als Exhibitionistinnen angesehen wurden. Es war so ähnlich wie heute, wenn klassische Musik als Statussymbol konsumiert statt als Herausforderung angenommen wurde. Und es ist kein Fortschritt, dass man Schwule vielerorts immer noch von Kindern fernhalten will.

Die Wissenschaft spielt heute eher eine größere Rolle, wenn beim Fußball nicht nur der Kampfeinsatz, sondern auch die Laktatwerte stimmen müssen. Vielleicht würde die Einführung der Mengenlehre als Grundlage der Mathematik in den Schulunterricht heute nicht mehr von den Eltern verhindert. Auch die lautstarke Impfgegnerschaft sehe ich nicht als Ablehnung der Wissenschaft, sondern nur als schlecht informiertes Selbstbewusstsein gegenüber denen, die keine Obrigkeit mehr sind.

Auch die vielerseits abgelehnte AfD ist für mich kein Beispiel einer Verschlechterung, solange ich mir - Achtung, doppelte Verneinung - nicht sicher bin, dass Franz-Josef Strauß nicht in diese Partei gepasst hätte. Und die Q(Anon)uerdenker sind vielleicht eine Art Entsprechung der tausenden von UnterstützerInnen und AnhängerInnen, die die RAF früher hatte. Mit solchen lose organisierten Gruppierungen muss wohl jede größere Gesellschaft leben.

Insgesamt sehe ich also, dass wir toleranter miteinander umgehen und sich viele Türen weiter geöffnet haben.

Auf der Gegenseite kommt uns nun die US-Gesellschaft entgegen, kaum entwirrbar ineinander verkracht und sehr unterhaltsam von den Fernseh-Nachrichten, -Kommentaren und -Komikern ausschnittweise auf dieser einen Videoplattform vorgeführt. Der dortige Präsident ist jemand, der im Stil des Alleinunterhalters arbeitet, der er vorher war, und der die Spaltungen der Gesellschaft richtig erkannt und genutzt, sie seitdem aber nicht behoben, sondern als seine Geschäftsgrundlage verbreitert und vertieft hat. Dabei wird ihm eifrig von Parlamentsabgeordneten geholfen, deren Motivation leider nicht so genau untersucht wird wie die seinige. Ihm gegenüber steht im gegenwärtigen Wahlkampf jemand, der vor lauter Drang, das Land wieder zu einen, fast vergisst, konkrete Politik anzubieten.

In unserem Land werden vor allem die Kapriolen dieses Präsidenten, sein Umgang mit dem Sars-Coronavirus-2 und die Auswirkungen seiner Politik auf die Wirtschaft besprochen. Der Rassismus als tiefster Graben der US-Gesellschaft war nur im Frühsommer, nach dem Mord an George Floyd, kurz ein Thema. Das ist wohl unsere Brille, aber, da mich an Blues, Soul und Rap mehr als nur der Tanzrhythmus interessiert, nicht meine.

Als ich anfing, darüber nachzudenken, fiel mir keine Gelegenheit ein, bei der mir Rassismus begegnet ist. Ich habe ihn deshalb in der obigen Auflistung nicht genannt. Doch nach und nach sind in den letzten Monaten Situationen in meinem Gedächtnis aufgestiegen, die ich demnächst schildern will.

 

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