7. Juni 2019

Fernes Dorf von Nahem
 
Der Scheufelsberg, obwohl nicht höher als die umgebenden Mittelgebirge, ist schon von Weitem auszumachen. Geformt wie ein Gugelhupf, fällt er ebenso auf, wie es das in dieser Gegend unübliche Gebäck täte. Der ihn gleichmäßig bedeckende Wald wird nur an einer Stelle von einem großen Haus unterbrochen. Dort befindet sich eine Klinik.

Wir folgten den trockenen, festgefahrenen Spuren eines Traktors durch hüfthohe Ölsaat und Getreide mal zum Wald hin, mal zur Autobahn gewandt. Es war windstill und wir hörten außer den Autos nichts Menschliches, keinen Vogel, nicht einmal einen der zu dieser Jahreszeit in jedem Baum lärmenden Buchfinken, nur eine einzelne Hummel im Raps und sahen die Hufabdrücke einiger Rehe auf dem Weg. Schließlich gelangten wir zu einem Fahrweg, der uns vor das Haus brachte: "Fachklinik Scheufelsberg". Es war nicht klar, ob die Klinik noch betrieben wurde und um welches Fach es da gehen sollte, doch Lunge oder Orthopädisches, das wäre auf dem Schild sicher genannt worden.

Rechts von uns den Berg, links das Tal, passierten wir ein Büro, das mitten in der Woche geschlossen war, und kamen an eine alte Mauer, wo wir den Blick ins Tal mit den Angaben auf unserer Karte verglichen. Wir besprachen, welcher der Orte dahinten Grimpa und welcher Kramlau sein müsste und wozu einmal drei riesige Ställe weiter vorn gehört haben mochten. Es fiel uns auf, dass einer der großen Mauersteine nur locker stand und wir mit ihm gemeinsam den Hang hätten hinunterstürzen können, und wir stellten uns woanders hin, als sich Schritte regten. Aus allen Gebäuden, dem Altbau wie den flacheren Neubauten kamen Männer und Frauen in auffällig bequemer Kleidung mit kleinen Schachteln in der Hand an uns vorbei und sammelten sich stumm bei einigen großen Aschenbechern unter einem Schutzdach, als bemerkten sie uns nicht, als folgten sie willenlos einem für alle gleichen Befehl.

An Bauzäunen und einer langen Reihe von Wohncontainern vorbei, die anzeigten, mit welcher Geschäftsentwicklung die Leitung der Klinik rechnete, verließen wir das Gelände bei einem Schild: "Fachklinik Scheufelsberg - Betreten verboten", und stiegen weiter hinan.

Von der Scheufelsburg war nur noch das restaurierte Gemäuer der Kapelle übrig, überragt vom im Industriezeitalter gewachsenen Wald und einem Fernmeldemast. Die Aussicht über das hier fast im rechten Winkel abbiegende Tal musste sehr vorteilhaft für die Erbauer gewesen sein. Doch wir waren hungrig. Der Weg zum Dorf Rotschlag, am Fuß des Berges, führte uns noch einmal an der Klinik vorbei: "Betreten verboten".

Abwärts ging es zum Friedhof, abwärts zu einer Kreuzung an der wir rechts um den Berg herum ins nächste Dorf hätten kommen können, geradeaus abwärts an einem Hinweis auf den nächsten gemeinsamen Kampf gegen Insekten vorbei, der Widerstand gegen den rundherum zu beobachtenden Sinneswandel anzeigte, abwärts zum lokalen Gasthaus. Es wurde regionale Küche angeboten, nicht zu teuer, aber ohne Öffnungszeiten. An einem Wochentag wie diesem musste man auf dem Land schon Glück haben. Wir fragten einen Mann in Unterwäsche, der mit leerem Mülleimer um die Hausecke zur Tür kam. "Heute ist geschlossen", brummte er. Auf unsere Nachfrage, wann denn offen sei, sah er so intensiv durch uns durch, dass auch wir uns weit weg wünschten: "Nur samstags."

Diese Gegend hatte uns bisher vor allem wegen der Freundlichkeit ihrer Bewohner gefallen.

Abwärts ging es an gut gepflegten Häusern vorbei, die ohne die üblichen Zäune, Tore, Fenster aus dem Baumarkt auskamen, denn hier wurde offenbar das eigene Handwerk hochgehalten, abwärts über Kopfsteinpflaster an einer Großmutter vorbei, die uns nicht ansah, abwärts vorbei an zwei jungen Glatzköpfigen und einer modisch frisierten Frau, die allein unseren Gruß erwiderte, denn auch das abweisendste Dorf braucht frisches Erbgut von Außerhalb.

Im Tal stand, etwas abseits, das letzte Haus, von außen etwas städtischer anmutend, dessen Bewohner ungeschriebene Regeln des Dorfes verletzt haben mochten, dann das Ortsschild. Auf der Vorderseite vermuteten wir eine Tarnung, ein Sackgassenzeichen etwa. Wir drehten uns nicht danach um, weil wir plötzlich an der Hauptverkehrsstraße des Tales standen und uns entscheiden mussten. Wir überquerten die lärmende Straße, an der wir nicht gehen wollten, den Fluss an ihrer Seite, an dem wir nicht gehen konnten, den Bahndamm auf dem anderen Ufer, auf dem wir besser nicht gehen sollten, und fanden uns auf Privatgelände. Es gab keinen anderen Weg als die Straße.

Eine speziell für Fledermäuse hergerichtete alte Mühle passierend, fiel uns ein, dass es für die Rotschläger vielleicht nicht einfach war, eine Klinik für Drogenkranke im Ort zu haben, und dass der Wirt in uns, die ohne Gepäck gingen, vielleicht keine Wanderer gesehen hatte, sondern nur sein Lokal vor unberechenbaren Patienten hatte schützen wollen.

Die Gegend war aber auch die Wahlheimat eines weithin bekannten Nazis.

Wir nahmen den ersten Feldweg, der von der Straße abging. Es wuchs dort Gras, Bäume standen am Rand, von denen Äste herabgefallen waren, zwischen die Blumen auf dem Weg, Gebüsch lockerte den Wald auf und ließ seine Dornen nun in die Brennesseln ragen, die sich bald mit Disteln abwechselten, und dann standen wir auf einer viehlosen Weide. Jenseits dieser führte eine Straße links zurück ins Dorf, wohin wir nicht mehr wollten, und rechts verbindungslos unter einer neugebauten Straße hindurch. Dort kletterten wir hinauf.

Einen Fußweg gab es nicht, und so hielten wir uns auf einem Seitenstreifen, unsere Befürchtungen austauschend, was das eventuelle Auftauchen eines Polizei- oder Krankenwagens betraf. Jedwede Beteuerung, wir seien bloß neugierige Landschaftsfreunde, hätte es für uns nur schlimmer gemacht, dachten wir.

In Rotschlag wurde, wie wir später lasen, der Ortsrat von einer bürgerlichen Partei und der Freiwilligen Feuerwehr dominiert.

Die Böschung gegenüber überragten drei riesige Ställe. Lautsprecher hingen am Zaun und ließen uns überlegen, ob dort wirklich Vieh gehalten worden war. Dahinter ging eine weitere Abzweigung zum Dorf hin, das auf Wanderer nicht vorbereitet war, und wir blieben auf der Straße, die auf Wanderer nicht vorbereitet war und deren Seitenstreifen hier endete.

Von einer Höhe sahen wir dort, wo wir geparkt hatten, einen Lastwagen stehen, groß genug, um unser Auto in seinem Inneren zu transportieren. Wir bahnten uns wieder einen Weg durch Gestrüpp.

Der Lastwagen kam uns entgegen und fuhr vorbei, drehte auch nicht um, nachdem er uns passiert hatte. Schließlich stand unser Auto noch da und sprang sogar an. Uns war erst nach längerer Fahrt wieder wohl.

 

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