20. Mai 2009

The Balkan Girls
 
Den Eurovision Song Contest, der für mich auf immer der Grand Prix d'Eurovision d'en d'an d'on bleiben wird, fand ich dieses Jahr so erträglich wie noch nie. Ich meine damit keine Tänzer, die in durchsichtigen Bassins schweben, sondern die Musik.

Die ganze Veranstaltung ist ja Trash, da kann sie noch so teuer sein. Wir sehen uns das seit zwanzig, dreißig Jahren immer zu mehreren an, je mehr desto besser, mit Kartoffelchips und vorbereiteten Stimmzetteln. Jeder hat sein eigenes Bewertungssystem, und am Ende sind selten zwei Leute einer Meinung. Aber darauf kommt es auch gar nicht an.

Die ganze Idee, Kunst in einem Wettbewerb zu bewerten, und um Kunst handelt es sich hoffentlich, ist ja für'n Arsch. Wer erinnert sich denn noch an Jean Jacoby? Der war immerhin, als einziger Künstler, zweifacher Olympiasieger (1924 in Malerei, 1928 in Zeichnungen und Aquarelle). Hört man ab und zu jemanden sagen: "Geh mal ins Museum Soundso, da hängen einige fantastische Jacobys!" oder "Mein Vetter hat einen Jacoby über seinem Sofa hängen, was bin ich neidisch!"?

Umgekehrt reimt es sich ebenso wenig. Welchen Wettbewerb hat Beethoven gewonnen, welchen Goethe? Auch Bob Dylan ist nie über einen zweiten Platz hinausgekommen. Sophokles mag einige Wettbewerbe gewonnen haben, aber das ist wirklich lange her.

Zugegeben, den Eurovision Song Contest haben zweimal echte Weltstars gewonnen - Abba und Céline Dion - aber auch ebenso oft verloren - Cliff Richard und Cliff Richard. Aber es ist ja kein Interpreten- sondern ein Komponistenwettbewerb. Da habe ich von den Siegern nur drei jemals in einem anderen Zusammenhang gehört: Serge Gainbourg, Udo Jürgens und Anderson/Andersson/Ulvæus. Das ist nach 53 Austragungen nicht viel. Also kommt es nicht darauf an, wer wieviel Punkte kriegt, außer für die nationale Eitelkeit der teilnehmenden Länder.

Diese Eitelkeit hat aber in den letzten Jahren für viel Ärger gesorgt. Ich fand es gut, dass zuletzt acht Länder gewonnen hatten, die vorher noch nie erfolgreich waren. Aber die Westeuropäer waren genau deshalb beleidigt. Sie fanden, es gewännen nur noch Osteuropäer - und zählten Finnland, Griechenland, die Türkei nonchalant dazu - und das läge daran, dass die Osteuropäer sich gegenseitig die Punkte zuschanzten.

Dazu nur das: Europa hört nicht an der Oder auf, sondern am Ural. Die European Broadcasting Union reicht sogar bis zum Pazifik (und im Süden bis in die Sahara). D.h. der Teil, den hier viele als Osten wahrnehmen, umfasst mehr Staaten, mehr Fläche und mehr Einwohner als der Westen. Die sind mehr als wir! Können wir das als Demokraten akzeptieren?

Außerdem ist das, was wir zum Eurovision Song Contest schicken, doch schon nach unserem eigenen Urteil größtenteils gequirlte Scheiße. Was die aufbieten ist dagegen nach ihrem Geschmack brandaktuell und äußerst beliebt. Wer hat da wohl die besseren Chancen?

Okay, nehmen wir an, die Osteuropäer gewinnen bloß, weil sie sich immer gegenseitig die ganzen Punkte geben. Was wäre, wenn man alle Osteuropäer von der Stimmabgabe, aber natürlich nicht vom Singen, ausschlösse? Seien also nur die Länder stimmberechtigt, die schon 1989 abstimmen durften. Sieger 2008 wäre nicht Russland, sondern Armenien. Sieger 2007 wäre statt Serbien Serbien. Wären die Westeuropäer damit zufrieden? Nein, natürlich nicht. Mit Zahlen kann man alles beweisen, in Mathe waren wir schon immer schlecht, und überhaupt war früher alles besser.

Deshalb sind die Österreicher, die 2007 lieber Serbien statt Serbien als Gewinner gehabt hätten und deshalb ihre 12 Punkte an Serbien vergeben haben, danach aus dem Wettbewerb ausgetreten. Das kann so recht niemanden stören. Aber die EBU hätte auch lieber eine gerechtere Abstimmung und hat deshalb die Wahlstimmen des Fernsehvolks halbiert. Der einfache Zuschauer versteht nichts von Musik, da müssen Fachleute ran.

Das Ergebnis: 12 Punkte von Zypern an Griechenland, 12 von Serbien an Bosnien, 12 von Kroatien an Bosnien, 12 von Moldawien an Rumänien, 12 von Rumänien an Moldawien, 12 von Finnland an Estland, 12 von Andorra an Spanien usw. Und wieder keine Punkte aus Österreich für Deutschland.

Am Ende gab es einen Gewinner wie bestellt: Norweger (Westen), aus Weißrussland stammend (Osten), Stampfrhythmus (Westen), überschäumende Melodie (Osten), Rekordletzter (Norwegen).

Mir hat das Lied auch gefallen, und das habe ich mit einem Siegerlied ungefähr seit 1993 nicht mehr erlebt. Und noch nie fand ich gleich drei Lieder richtig gut (Norwegen, die Country-Schnulze aus Island und den New-Wave-Kracher aus der Ukraine). Noch nie vorher fand ich weniger als die Hälfte der Beiträge beschissen. Kurz: die "Balkan Girls" (Rumänien, mein Platz 14) können wiederkommen.

Trotzdem bleibt der schale Geschmack, dass ein Stück Demokratie verlorengegangen ist. Wie gesagt, über Kunst kann man nicht vernünftig abstimmen, aber wenn man es doch tut, dann bitte demokratisch. Hier wird im Kleinen probiert, wie das Volk reagiert, wenn man ihm sein Wahlrecht nimmt, sicher nicht mit Absicht, aber im Ergebnis. Deshalb bin ich am Ende doch verstimmt. Denn, wie auch bereits gesagt, schöne Musik suche ich eher anderswo.

 

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