17. Juni 2009

Meine Anrufer
 
Ich kenne ein paar Leute, für die das Glas nicht halb voll ist, sondern immer leer, wegen des Dursts. Und wenn sie es oft genug geleert haben, rufen sie mich an.

Vielleicht bin ich nüchtern schwer zu ertragen. Jedenfalls rufen mich diese Leute nie unterhalb eines gewissen Alkoholpegels an. Wenn ich dort anrufe, erwische ich sie meistens auf dem falschen Fuß, der Pegel ist noch nicht erreicht, und sie haben nichts zu sagen.

Diese Leute rufen also an, und ich spreche auch gern mit ihnen, aber in dem Moment bin garantiert nur aus Höflichkeit ans Telefon gegangen oder, wahrscheinlicher, weil ich einen Rückruf wegen einer Terminabsprache oder Ähnlichem erwarte. Es soll ja Rentner geben, die den ganzen Tag am Apparat hocken, in der Hoffnung auf ein Klingeln und dass jemand versucht, ihnen Kabelfernsehen anzudrehen. Die meisten Menschen aber stelle ich mir als den ganzen Tag aktiv vor. Man tut etwas, und sei es sich Ausruhen, bei dem man nur mit gutem Grund gestört werden will. Die spontane Laune eines anderen gehört nicht dazu. Okay, wenn jetzt jemand käme, das Wetter ist so schön, lass uns schwimmen gehen, da kommt ein interessanter Film, ich hab Lust auf Torte: "Kommst du mit?", ja, das wäre was. Aber plötzlich, von einem Moment auf den anderen, für Stunden an einen einzelnen Menschen gebunden sein, nicht vernünftig essen können, nicht in Ruhe kacken, mit keinem andern reden können, nein.

Meistens mache ich gerade etwas mit den Kindern, wenn das Telefon klingelt. Aber "ich höre gerade Vokabeln ab" oder "ich bringe gerade die Kinder ins Bett" oder "ich habe versprochen, jetzt noch etwas vorzulesen" ist nichts, diese Anrufer dazu zu bringen, sich später nochmal zu melden oder um Rückruf zu bitten. Da heißt es höchstens, wenn überhaupt eine Reaktion kommt, "das kannst du doch später machen", als könnten die Kinder einfach zwei Stunden länger aufbleiben.

Meine neue Taktik ist es, etwas vorzuschieben, was ich angeblich im Fernsehen sehen möchte. Das zieht. Dabei habe ich gar keinen Fernseher.

Tja.

Wenn jemand ein akutes Problem hat, zu dessen Lösung ich fernmündlich beitragen kann, manchmal soll ja schon Zuhören helfen, dann bin ich natürlich bereit, auch auf Kosten der Kinder, auch die ganze Nacht. Aber wie es scheint, bin ich zur Problemlösung nicht geeignet, weil man mich nicht einschenken kann.

 

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