10. Juni 2009

Das Kleingedruckte der Wahl
 
Ich weiß nicht, wieviele Leute sich bei der Europawahl den Stimmzettel genau angeguckt haben. Ich weiß ungefähr, wieviele den Stimmzettel gar nicht gesehen haben, weil sie nicht gewählt haben. Ich weiß auch, dass einige im Wahllokal den ganzen Stimmzettel durchgegangen sind, weil ich ihre amüsierten Ausrufe gehört habe ("Ei, gugge ma, Kall, da gibts aach ne Piradepartei!") oder weil einige sich vor der Stimmabgabe erst auf einen der Tische gesetzt haben, um in Ruhe an Hand des Stimzettels ihre Entscheidung zu treffen.

Und so soll es ja auch sein. Was auf dem Stimmzettel steht, ist die Information, die uns die Wahlleitung zur Hand gibt, um uns eine Entscheidung, die ja auf einer Unterscheidung gründet, zu ermöglichen. Programme und politische Ziele stehen nicht auf dem Zettel, weil wir keine Programme, sondern Personen wählen und nachher im Parlament auch keine Programme, sondern Personen sitzen. Also gibt es Angaben zu den Personen, die die jeweiligen Wahlvorschläge vertreten.

Und die sind z.T. aufschlussreich. Ich achte, auch wenn es oberflächlich ist, immer auf die Verteilung von Männern und Frauen. Neunzig Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts sollte es Allgemeingut sein, dass beide Geschlechter für die Politik geeignet sind und gebraucht werden. 28 von 31 Parteien haben das begriffen, die Frauen eingeschlossen, die Vertreter eines mythischen Deutschlandbildes und sogar die fundamentalistischen Christen. Drei Parteien haben auf dem Stimmzettel mehr Frauen als Männer genannt, fünf genaue Parität eingehalten, darunter erstaunlicherweise die DKP. Drei Parteien aber stemmten sich gegen den Trend. Es handelt sich um die Rentnerpartei und die Rentnerinnen und Rentner, die offenbar beide von Mitgliedern dominiert werden, die bereits vor 1918 politisch aktiv waren, und die Piratenpartei. Letztere, denen außer der Forderung nach einem freien Internet ohnehin nichts einfällt, denken wahrscheinlich, ob Mann oder Frau ist doch egal - da brauchen wir keine Frauen.

Interessant fand ich auch die angegebenen Berufe. Rentner waren zahlreich vertreten, Juristen, Lehrer, Ingenieure und Selbständige, viele Berufe aus der Gesundheitsbranche. Erstaunlich fand ich die Häufung von sechs Physikern gegenüber nur zwei Chemikern und keinem Biologen. Das lässt natürlich an Angela Merkel und Oskar Lafontaine denken.

Schade fand ich die Seltenheit von Hausfrauen unter den 296 Personen, das waren nämlich nur zwei, von Fabrikarbeitern (0), Bauarbeitern (0), Fernfahrern (0), Hilfsarbeitern (0), Kellnern (0), Verkäufern (0). Die allermeisten Kandidaten hatten etwas studiert. Dabei finde ich nicht, dass das notwendig ist. Politik bedeutet ja, die richtige Meinung anzunehmen, andere davon zu überzeugen und sich durchzusetzen. Ein Studium macht einen darin nicht besser, sondern es entfernt einen nur von den Interessen und den Lebenslagen der Hausmänner, Arbeiterinnen und Kellnerinnen.

Amüsant fand ich, dass vier Kandidaten der Grünen als Beruf lediglich "MdEP", also "Mitglied des Europäischen Parlaments", angegeben hatten. Die mussten unbedingt wiedergewählt werden, weil sie sonst nachher nicht bloß arbeitslos, sondern völlig ohne Beruf dagestanden hätten.

Viele im Wahllokal haben über die Länge des Stimmzettels gestaunt. Das hat, denke ich, damit zu tun, dass viele Leute bei der Europawahl, wo es angeblich nicht so darauf ankommt, eher bereit sind, eine kleine Partei zu wählen, und außerdem mit der geringen Wahlbeteiligung. Es ist dadurch leichter, mit relativ wenigen Stimmen einen staatlichen Wahlkampfzuschuss zu erlangen.

Trotzdem finde ich es auffällig, wieviele Parteien es heutzutage gibt. Eine Zeit lang gab es die Befürchtung, es könnte für jedes politische Anliegen eine eigene Partei entstehen. Nun scheint es aber für jedes Anliegen gleich zwei oder drei Parteien zu geben: für die Rentner Graue, RRP und Rentner, für direkte Demokratie Volksabstimmung, FBI und Für Volksentscheide, für die Umwelt Grüne, Tierschutzpartei und ödp, für fundamentale Christen PBC und CM, für Marxismus DKP und PSG, für europäische Vereinigung EDE und Newropeans, für Kompromisse um jeden Preis CDU und SPD, für Deutschland REP und DVU. Kein Wunder, dass so viele FDP gewählt haben. Die will offenbar niemand kopieren.

 

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