27. Januar 2015

Die deutsche Identität
 
Der Bundespräsident leidet schrecklich am Holocaust. Man muss ihn schon dafür bewundern, dass er überhaupt noch lebt, dass er die Erinnerung an das Grauen so lange ausgehalten hat und nun sogar nach Deutschland kommen und zu uns sprechen mag. In den besten Jahren seiner Jugend musste er unvorstellbare Kälte, Hungersnot, Schwerstarbeit, Erniedrigung und Folter ertragen, die er zwar wie durch ein Wunder überlebte, aber nur um festzustellen, dass die Deutschen bis auf ihn seine ganze Familie mitsamt den entferntesten Verwandten, seine Nachbarn und seine besten Freunde ermordet hatten. Bringe ich etwas durcheinander? Nein, Herr Gauck bringt etwas durcheinander. Nämlich Täter und Opfer. Er ist, wie auch ich, nicht mit Opfern verwandt, sondern mit Tätern. In unseren Familien klaffen keine riesigen Löcher, wo Verwandte umgebracht wurden, weil sie unsere Verwandten waren. Unter unseren Vorfahren gibt es einige, viel zu viele, die das Morden unterstützt haben, indem sie es nicht verhinderten, die es vielleicht auch gut fanden. Ja, Auschwitz gehört zur deutschen Identität, aber nicht weil ein Mann, der das Amt aus dem er spricht, auch wieder abgeben wird, angeblich persönlich leidet, sondern aus einem Grund, der für uns so wichtig ist, dass er einen eigenen Absatz verdient.

Auschwitz gehört untrennbar zur jüdischen Identität. Kein Jude kann dem entfliehen.

Damit will ich nicht das Leid der Sinti & Roma, der Schwulen, der Kommunisten, der Zeugen Jehovas, der geistig oder seelisch Behinderten, der Kriminellen klein reden. Ja, auch die, die wegen Verbrechen im Konzentrationslager eingesperrt waren, waren zu Unrecht dort und müssen entschädigt werden. Warum muss ich das extra sagen? Ich will auch nicht die Gräuel, die normgerechte Deutsche an den nichtjüdischen Lagerinsassen begangen haben, kleinreden. Für das, was ich sagen will, reicht es, die deutsche Situation der jüdischen gegenüber zu stellen. Ich tue jetzt auch der Einfachheit halber ganz kurz so, und begebe mich dafür auf braunes Terrain, als könne man nur Deutscher oder Jude oder etwas Drittes sein und nicht mehreres gleichzeitig.

Ein heutiger Jude (gleichfalls eine heutige Jüdin) hat mit einiger Wahrscheinlichkeit mehrere Verwandte nicht, weil sie von Deutschen (oder unter deutscher Regie, es gab auch Litauer und andere Ausländer in der SS und anderen deutschen Organisationen, das ist mir klar, ändert aber wenig) ermordet worden sind. Alle anderen Juden haben zwar nicht familiär mit dem Holocaust zu tun, aber über ihre Zugehörigkeit zum Judentum, denn auch sie waren gemeint. Die Deutschen haben ja nicht bloß die Juden aus Großdeutschland vertreiben, sondern alle Juden töten wollen.

Alle Deutschen? Nun, man kann diejenigen, die versucht haben, das Morden aufzuhalten, an wenigen Händen abzählen. Also, das Morden an den Juden, nicht das Morden im Krieg. Ich schiebe hier kurz ein, was ich neulich von Marion Dönhoff gelesen habe. Sie schrieb 1998 oder 1999 in der Zeit, es sei nicht wahr, was über die Männer des 20. Juli gesagt werde, nämlich dass alles bloß Grafen gewesen und sie erst aufgewacht seien, als der Krieg offensichtlich verloren war. Tatsächlich schrieb sie, seien auch die Herren von Dies und von Das beteiligt gewesen und hätten sie bereits am Anfang des Krieges ihre Kritik an der Heeresführung geäußert, nur eben vergeblich. Daraus schließe ich, dass auch die Gräfin Dönhoff meint, Bürgerliche seien damals nicht beteiligt gewesen und um den Holocaust sei es nicht gegangen. Die Männer (Frauen?) des 20. Juli zähle ich also nicht mit.

Auch meinen Großvater zähle ich nicht mit. Er war aktiver Sozialist gewesen, der für die gute Sache geworben und auch sein persönliches Leben nach damals bei Genossen modischen Vorstellungen ausgerichtet hatte, und sah sich als Gegner des Regimes. Dennoch ist er 1937 in die nationalsozialistische Partei eingetreten, weil er meinte, nur so seinen Job behalten zu können. Es mag sein, dass er sonst tatsächlich seine Anstellung verloren hätte, für ihn jedenfalls schien das seine Wahl zu sein: Mörder unterstützen oder aber weniger oder kein Geld verdienen. Doch, mit seiner bloßen Mitgliedschaft hat er den Mördern geholfen, sonst hätten sie ja nicht darauf gedrungen. Zugespitzt will ich sagen: Für das Geld meines Großvaters, meiner Großmutter und meines damals neugeborenen Vaters sind Juden gestorben.

Fast alle Deutschen also. Damals. Wie aber sieht es mit den heutigen Deutschen aus? Ich sage, alle heutigen Juden sind vom Holocaust betroffen. Die Opferseite ist deutlich zu sehen. Wo sind die Täter? Wer ist schuld an dem Schmerz? An wen können sich die Juden wenden? An Tote? Sie leiden in der dritten und vierten Generation, und wir sonnen uns in Demokratie und Wirtschaftswachstum? Darf man Menschen so allein lassen? Dürfen vor allem wir, die wir keine Hemmungen haben, Schmuck, Möbel, ganze Häuser oder auch nur Familienfotos zu erben, die Schuld der Täter mit ihnen ins Grab legen oder gar auf den Friedhofskompost werfen? Darf die deutsche Gesellschaft, deren Staat mit und von alten Nazis aufgebaut worden ist (weshalb Inge Meysel das Bundesverdienstkreuz abgelehnt hat), das Judentum mit der Erinnerung, die es in den letzten sieben Jahrzehnten mitgeprägt hat, allein lassen? Es ist eben auch unsere Erinnerung, nicht die jedes einzelnen, aber die von uns allen und deshalb ein Thema für jeden einzelnen Deutschen (und jede einzelne Deutsche).

So sehr ich das Denken in Nationen ablehne, wegen Auschwitz kann und darf ich nicht leugnen, dass ich deutsch bin. Für mich ist Auschwitz nicht nur Teil meiner nationalen Identität (ich habe auch andere Gruppenidentitäten: familäre, berufliche, sportliche usw.) und das auch nicht erst seit gestern, sondern deren Grundlage, gerade weil ich das Nationale ablehne.

 

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