9. April 2014

Gezupfte Zipfel
 
Vor einigen Jahren las ich in der Zeitung etwas über Hanna Krall, das mich ansprach und denken ließ, von dieser Polin sollte ich einmal etwas lesen. Was das Ansprechende in dem Arikel war, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich befindet er sich in der Schublade, in dem meine Zeitungsausschnitte ungeordnet liegen, vielleicht gammelt er zusammen mit der ihn umgebenden Zeitung in einem Stapel im Keller. Unwahrscheinlich ist, dass ich ihn weggeworfen habe, sicher ist, dass ich mich an seinen Inhalt nur soweit erinnere, dass er von Hanna Kralls Schreiben handelte.

Es fügte sich vor einigen Jahren, die aber einen kleineren Zeitraum umfassen als die "einigen Jahre" aus dem ersten Satz, dass die hiesige Bücherei unter anderen mehrere Bücher von Hanna Krall aus ihrem Bestand nahm und billig verkaufte. Solange sie dort im Regal standen, hätte ich sie nie gelesen, weil ich ein säumiger Rückgeber bin und mir sowieso nicht gern das Lesetempo vorschreiben lasse. Nun aber kaufte ich drei Bände, und inzwischen habe ich einen davon, Existenzbeweise, gelesen. Ich habe damit sieben Monate zugebracht. In der Ausleihe hätte ich dafür, mehrmals zu spät verlängert, einmal zurückgegeben wegen der Erreichung der Höchstzahl der Verlängerungen, erneut ausgeliehen, erneut zu spät verlängert, insgesamt zuviel bezahlt.

Es sind Geschichten über das, was Juden in Polen unter der deutschen Besatzung zugestoßen ist, und vor allem über das Weiter der Überlebenden. Die längste handelt von dem Pianisten Andrzej Czajkowski, den es wirklich gegeben hat. Zu dem, was ich an anderer Stelle über ihn gelesen habe, gibt es hier keine Widersprüche. Auch die anderen Texte geben sich an tatsächlichen Fakten orientiert. Ortsangaben sind bis auf die jeweilige Straße genau, Personennamen werden hinten abgekürzt. In den meisten Texten gibt es ein Ich, das etwas sieht oder sich etwas erzählen lässt. Alles das lässt sie wie Reportagen wirken.

Andererseits gehen sie allenfalls in Form eines Zitats über die personale Ebene hinaus und enthalten viel Dialog, der nicht protokolliert worden sein kann. Die Texte sind also stark gestaltet und weit mehr als einfache Berichte. Mir sind sie dennoch nicht literarisch genug. Zu viele Fakten, die das Leben ohne literarisches Interesse geschaffen hat, zerfasern hier den roten Faden, zu wenig treffende Bilder lassen mir Lichter aufgehen. Ich schlage einmal an einer beliebigen Stelle auf und lese: "Der Rabbi gab ihnen achtundvierzig Eier und ein Päckchen Pflanzenfett." Jetzt suche ich seitenlang davor und danach, ob jemand Eier und Pflanzenfett braucht oder verzehrt, aber nichts. Dieses Detail steht einfach da. Als Detail. Ganz allein. Nein, allein nicht. "Die Pumpe war rot.", lautet ein Absatz kurz davor, "Er wohnte auf dem Westbahnhof, auf dem Bahnsteig 4", ein halber Satz kurz danach. Diese Texte lesen sich wie Zettelkästen.

Gewiss, das Weiterleben bedeutet, mit Trauma und Verlust zu leben. Das kleinste Detail kann der Zipfel einer wertvollen Erinnerung sein. Ich verstehe das, finde aber keinen Gefallen daran. Vielleicht sind diese Texte nicht für mich geschrieben. Ihre trotzdem sicher nicht beabsichtigte Wirkung besteht darin, mir für die nächste Zeit jedes Interesse an polnischen Juden und den beiden anderen Bänden von Hanna Krall genommen zu haben.

 

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