29. August 2015

Klassen- statt Rassenbewusstsein
 
Als ich auf eine begeisterte Rezension von Meines Vaters Land von Wibke Bruhns stieß, dachte ich, das Buch muss ich lesen. Es sollte, so hatte ich es mir gemerkt, um die Frage gehen, wie die Familie der Autorin dazu kommen konnte, sich den Nazis anzuschließen.

Zweierlei war mir dabei entgangen. Der Vater der Autorin gehörte nämlich zum Kreis des 20. Juli und kann daher so sehr Nazi nicht gewesen sein. War er auch nicht. Und, das habe ich inzwischen gelernt, Rezensionen, die Journalisten über Bücher von Kollegen abfassen, sind oft begeistert, wahrscheinlich nicht einmal aus persönlicher Sympathie, sondern einfach weil Vorgehensweise, Textaufbau und Sprache vertraut sind. Dieses Buch liest sich also fast vierhundert Seiten lang wie eine Zeitungsreportage.

Was ich wissen wollte, also wie jemand zum Anhänger des Nationalsozialismus werden konnte, wird nur kurz gestreift. Die NSDAP kommt an die Regierung, schaltet das Land gleich, und diese Familie lässt sich gleichschalten. Man findet das Singen und Marschieren gut. Sonst steht da wenig.

Das Buch beginnt mit einer ausführlichen Geschichte des elterlichen Handelshauses, des Aufstiegs der bürgerlichen Familie in vom Adel dominierte Kreise. Dann kommt eine lebendige Beschreibung der Erlebnisse des Vaters als Offizier im Ersten Weltkrieg. Dem folgt eine detaillierte Darstellung der elterlichen Eheprobleme. Gegen Ende werden minutiös die Ereignisse vom 20. Juli geschildert, und zwar die, die sich im elterlichen Haus abspielen und die mit dem Attentat nicht das Geringste zu tun haben. Passend wird das Ganze durch eine seitenlange Sammlung von Familienphotos ohne historischen Wert abgeschlossen.

Die Lektüre hat sich also nicht gelohnt. Aber die Wüste lebt, und ein aufmerksamer Leser findet immer etwas.

Erstens wird hier deutlich der späte Wilhelminismus als Vorläufer des Nationalsozialismus dargestellt. In dieser Geschichte kommt der Aufstieg der Nazis nicht überraschend. Das hat mir gefallen. Denn die Verwunderung über den Erfolg der Nazis ist ja erst im Nachhinein aufgekommen.

Oder? Zweitens wundert sich die Autorin, und ich mich mit ihr, dass ihre Familie, die alles aufgeschrieben und das meiste aufbewahrt hat, dadurch das Buch überhaupt erst ermöglichend, praktisch nichts über die Juden sagt. Sie schweigen wie jemand, der bei Tisch gefurzt hat. Sie übergehen die Verfolgung, finden sie weder gut noch schlecht, sind aber doch nicht unbeteiligt, weil niemand unbeteiligt war. Ich vermute dahinter einen starken psychischen Drang, etwas nicht zu sehen, von dem sie, ohne es sich einzugestehen, wissen, dass es böse und falsch ist. Und dann vermute ich, dass es die meisten Deutschen so gehalten haben, vielleicht sogar aktive Täter. Um nachher ganz unbedarft sagen zu können: Ich frage mich, wer in meine Hose geschissen hat.

Drittens wird hier behauptet, der von Offizieren getragene Widerstand des 20. Juli habe deshalb unentdeckt bleiben können, weil die vor allem adligen Offiziere in ihrem Dünkel gegen plebejische Nazis lieber ihresgleichen befördert und mit jenen nicht viel verkehrt hätten. Das ist ja ein klares Plädoyer für Dünkel und kann mir nicht gefallen, muss mir aber gefallen, weil ich natürlich für den Widerstand bin. Es dauerte eine Weile, bis mir wieder einfiel, dass es ja auch proletarischen Widerstand gegeben hat, und nicht geringeren. Proletarier kommen in diesem Buch aber nur als Hausangestellte und manchmal als Gegenstand politischer Gespräche vor. Da hatte ich naiver Leser mich schon wieder zu einer Sichtweise verführen lassen, die meiner eigenen Perspektive widerspricht.

Und es dauerte noch länger, bis mir die Verbrechen der Wehrmacht wieder einfielen.

 

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