10. Mai 2019

Die Leute sollen lernen, schwierige Dinge zu denken
 
Eine Intellektuelle ist jemand, die Freude am Denken hat, so sage ich es. In der öffentlichen Sphäre ist ein Intellektueller jemand wie der Schriftsteller Émile Zola, der eines Tages das Unrecht nicht mehr erträgt und mit einem "J'accuse!" Besserung bewirkt, oder jemand wie der Semiotiker Umberto Eco, der zu allem etwas Kluges zu sagen hat. Eine Zeit lang gab es eine ganze Herde von solchen Köpfen, die sich gegen Atomwaffen wandten, Bombenleger rechtfertigten oder über die korrekte Sichtweise auf den Nationalsozialismus stritten und bei Zeitungen wie im Rundfunk willkommen waren. Heute, da sich jeder unredigiert ins Internet ergießen kann, mag jene öffentliche Funktion hinfällig sein - damals konnte man in gebildeten Kreisen zum Prestigegewinn lässig "Sartre" zustimmen oder ihn lächerlich machen, nachdenklich auf Feinheiten seiner Argumentation hinweisen oder manchmal sogar sich zu echtem Interesse und eigenen Gedanken hinreißen lassen. Es waren Zeiten, das noch.

Als Umberto Eco eine Kolumne in der Zeit hatte, stellte er darin einmal die Frage, ob ein Spiegel ein Zeichen sei. Das fand ich spannend, auch wenn ich mich an die Antwort, denn er entschied sich am Ende, nicht erinnere. Nun tauchte er wieder an meinem Horizont auf, indem hier und da an seinen angeblich lehrreichen Aufsatz "Eternal Fascism" erinnert wurde. Um ihn in Gänze zu lesen, beschaffte ich mir seinen Sammelband Vier moralische Schriften (im Original Cinque [sic!] scritti morali). Der gesuchte Text ist tatsächlich interessant, weil er vierzehn Merkmale auflistet, von denen jedes einen Faschismus ausmachen könne, und weil man sich an dieser Liste abarbeiten kann.

Die anderen drei Texte haben es nicht in sich. Zunächst wird anlässlich des Zweiten Golf- / Ersten Irakkriegs sympathisch, aber wenig plausibel dargelegt, dass Kriege heutzutage unmöglich seien. Aus verschiedenen Gründen könnten weder entscheidende Kräfte von den Kriegsparteien gelenkt, noch die Feindseligkeiten einem Gleichgewicht zugeführt werden. Vielleicht sei dies aber auch schon immer so gewesen. Die Menschheit entwickele womöglich gerade kollektiv und unbewusst ein Tabu des Kriegs. Es sei eine intellektuelle Pflicht, daran mitzuwirken.

In einem anderen Text geht es anlässlich der Jugoslawienkriege um untolerierbare Greuel. Es wird an die Nürnberger Prozesse erinnert, bei denen neue Prinzipien der Rechtsprechung angewandt wurden, weil die alten den zu beurteilenden Untaten nicht gewachsen schienen, und von einer aktuellen Konferenz berichtet, auf der Funktions-, Würden- und Bedenkenträger darüber diskutierten, ob man in einem fremden Land eingreifen dürfe, wenn man die dort verübten Greuel nicht mehr tolerieren könne. Ohne dass es dort steht, ist sicher militärisches Eingreifen gemeint, denn sonst bräuchte man wohl nicht darüber zu streiten. Und dann heißt es lapidar, die untolerierbaren Greuel seinen untolerierbar, und eine Intervention in einem solchen Fall geboten. Wenige Jahre oder, was diese Veröffentlichung betrifft, sogar wenige Seiten nach dem Tabu des Kriegs kommt also die Pflicht zum Krieg. Ich empfinde das als widersprüchlich.

Zuletzt gibt es eine Antwort auf die Frage eines Kardinals, wie Herr Eco ohne Letztbegründung, also ohne Gott oder ein Gottersatzprodukt auf pflanzlicher Basis, eine Moral mit Absolutheitsanspruch begründen könne. Richtig hätte die Antwort heißen müssen, das geht schon logisch nicht, und jeder Absolutheitsanspruch ist gefährlich. Stattdessen aber windet sich aus einer langen populärwissenschaftlichen Erklärung doch eine Letztbegründung, nämlich die, dass der Mensch so und so sei und bei rechten Sinnen nicht anders als moralisch handeln könne.

Nun will ich Umberto Eco keinen bösen Willen unterstellen, sondern bin mir sicher, dass er meinte, über diese Dinge nachgedacht und kluge Gedanken präsentiert zu haben. Doch muss es sich tatsächlich um einen Vorgang gehandelt haben, der sich bloß wie Denken anfühlt. In meinem Bekanntenkreis habe ich Ähnliches beobachtet.

Es bleiben die Forderung, die ich mir zu eigen mache, der Intellektuelle habe nicht die Aufgabe, zu entscheiden und etwa zur Revolution zu blasen, sondern Zwiespältigkeiten auszugraben und ans Licht zu bringen, sowie der schöne Satz: "Die Leute sollen lernen, schwierige Dinge zu denken, denn weder das Mysterium noch die Evidenz sind einfach."

 

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