3. April 2014

Klischees
 
Vor gut zwanzig Jahren habe ich einem Vortrag der kanadischen Schriftstellerin M. NourbeSe Philip beigewohnt, die damals noch Marlene Nourbese Philip hieß. Ich behaupte nicht, ich hätte den Vortrag gehört, denn ich kann mich in der Gegenwart vieler Menschen schlecht konzentrieren und es geht mir meistens zu schnell voran, vor allem, wenn ich wenig zum Anknüpfen habe.

Deshalb habe ich von jenem Vortrag nur noch in Erinnerung, dass diese dunkelhäutige Autorin Schwierigkeiten hatte, ihren Roman über die Erfahrungen dunkelhäutiger Jugendlicher in Toronto bei einem kanadischen Verlag unterzubringen, weil es hieß, er sei irrelevant, denn in Kanada gebe es keine Schwarzen.

Man könnte jetzt einfach „Oscar Peterson“ sagen, aber in Kanada gibt es tatsächlich wenige „Schwarze“. Es gibt auch nicht so viele „Weiße“. Das liegt daran, dass Kanada insgesamt eher dünn besiedelt ist, vernünftigerweise. Im Ernst, der Anteil von „Schwarzen“ an der kanadischen Gesamtbevölkerung lag damals bei zwei Prozent, also deutlich unter der entsprechenden Zahl die USA betreffend. Es hat in Kanada nicht so viel Sklaverei gegeben wie in den USA, angeblich weil die Landwirtschaft hier nicht so großen Nutzen daraus ziehen konnte wie dort, und nach Abschaffung der Sklaverei hat man versucht, die „schwarzen“ Einwanderer, durchaus auch per Gesetz, fernzuhalten.

Heute beruft sich ein Drittel der „Schwarzen“ in Kanada auf jamaikanische Wurzeln und ein Drittel auf den Rest der Karibik. Andere sind Nachkommen von in den Jahrzehnten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg entflohenen US-Sklaven. „Underground Railway“ hieß damals das Netzwerk von sicheren Wegen und Fluchthelfern/Schleusern/Menschenschmugglern.

Philips Roman, um den es damals ging und den ich seit Kurzem auch kenne, Harriet’s Daughter, gilt in Kanada und in der englischsprachigen Karibik längst als Jugendbuchklassiker und wird, wie ich höre, auch an unseren Schulen bisweilen gelesen.

Er handelt von einer Vierzehnjährigen, deren Eltern aus der Karibik eingewandert sind und die sich für Harriet Tubman, eine der Organisatorinnen der Underground Railway, begeistert, und deren neue Freundin, die erst kürzlich aus der Karibik eingewandert ist und sich zurücksehnt.

Der Englischunterricht, und ich zweifle kaum daran, dass Ähnliches für die anderen Sprachen gilt, wird bei uns oft mit Texten betrieben, die keine Literatur sondern nur Lektüre sind, geschrieben anscheinend von LehrerInnen, die darauf achten, dass Vokabeln und Grammatik zum sprachlichen Niveau der Zielgruppe passen, und möglichst viel landeskundliche Information verarbeiten wollen. Da werden bis zum Erbrechen die Gefühle, man will ja, dass die LeserInnen mitfiebern, von schablonenhaften Figuren ausgewalzt und alles ist total spannend. Warum, frage ich, wird die kostbare Zeit unserer Jugend mit so einer Scheiße verschwendet? Allen AspirantInnen empfehle ich, vor dem Schreiben The Adventures of Tom Sawyer und Le petit Nicolas zu lesen. Wenn Euch das nicht inspiriert, lasst bitte unsere Kinder in Ruhe. Schreibt für Eure Onkel und Tanten. Werdet OpernsängerInnen, was weiß ich.

Da liegt also die Latte, und Harriet’s Daughter springt mit den ersten zwei Dritteln glatt drunter durch. Der Vater der Vierzehnjährigen ist autoritär und verständnislos, die Mutter lieb und unterwürfig, der Bruder brav und karrierebewusst, die Schwester dumm und modebewusst. Die Gefühle der Hauptfigur werden bis zum Erbrechen ausgewalzt. Sie hat einen Plan, in dem sie alle ihre Probleme und mögliche Lösungen benennt. Er liest sich fast wie ein Plan der Autorin, diesen Roman zu schreiben.

Es gibt aber zum Glück eine Bekannte ihrer Eltern, die nicht nur dick und herzlich ist, sondern sie auch für voll nimmt und sie darin unterstützt, ihrer Freundin zu helfen. Diese Frau hat anders als der Vater keine Angst davor, dass die Leute schlecht über die Schwarzen reden könnten, sondern schmiedet selbstbewusst eine Allianz der Frauen, die ihren Männern widerstehen und die Interessen ihrer Töchter durchsetzen. Es gibt ein sehr positives und hoffnungsvolles Ende, das im Gegensatz zu den meisten Jugendbüchern der Leserschaft nicht nahelegt sich anzupassen, sondern dass es möglich und sinnvoll ist, sich für etwas einzusetzen.

Ich weiß, es gibt Bücher, in denen ein Mädchen sich gegenüber Jungen behauptet, innerhalb der Welt der Jugendlichen. Hier aber sieht ein Mädchen, wie Frauen sich gegenüber Männern duchsetzen und wird daran beteiligt. Das finde ich viel stärker, viel fruchtbarer im Hinblick auf das Erwachsenenleben. Die Hervorhebung dieses Aspekts hat mich auch überrascht, nachdem es lange auf der Oberfläche darum gegangen war, dass der dominante Vater die traditionellen westindischen Werte hochhält, aber die westindische Kultur verachtet, und die Tochter sich mit Rebellen aus einem anderen Kulturkreis identifiziert. Da hatte die Geschichte eine Ebene mehr, als vermutet.

NourbeSes Gedichte sollen aber wirklich sehr gut sein.

 

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