6. April 2014

Der Biologe und der Ingenieur
 
Neulich hatte ich zwei Diskussionen über den Freien Willen, eine mit einem Biologen, der die Geisteswissenschaften verachtete, und eine mit einem kulturbeflissenen Ingenieur.

Es ist eine philosophische Frage, und wir alle drei kannten uns kaum darin aus, weshalb wir umso engagierter diskutierten. Grob gesagt, ist der Wille eine Instanz des Bewusstseins. Das Bewusstsein wiederum hat mit der Fähigkeit eines Wesens, über sich selbst nachzudenken, zu tun und wird durch den Willen gekennzeichnet. Ja, das dreht sich schnell im Kreis. Alles basiert auf der Vorstellung von einem Individuum, also von etwas, das gleichzeitig ein unteilbares Ganzes ist und halbwegs unabhängig von etwas Übergeordnetem. Ich weigere mich, ein Philosophiestudium zu beginnen, nur um herauszufinden, dass diese Begriffe tatsächlich schwammig und umstritten sind.

Der Biologe behauptete nun, die Neurologie habe herausgefunden, dass es den Freien Willen nicht gebe. Ich hatte davon gehört, was da untersucht wurde, nämlich die zeitliche Korrelation von Hirnströmen und Muskelkontraktionen. Natürlich weiß man nicht, oder allenfalls ganz ungefähr und verschwommen, was diese Hirnströme bedeuten, weshalb man die jeweilige Versuchsperson weitgehend stillegen, also in ihrer Freiheit stark einschränken, muss. Außerdem steht hinter der Versuchsanordnung die Auffassung, Freiheit, Wille und Bewusstsein manifestierten sich in Hirnströmen, nicht aber in Muskelkontraktionen. Natürlich spielt sich das alles im Bereich von Sekundenbruchteilen ab, in Zeiträumen, die, auch das haben Neurologen erforscht, wir als gleichzeitige Gegenwart erfahren.

Muskelkontraktionen sind natürlich keine Handlungen. In der Philosophie wird gewöhnlich über bedeutungstragende Tätigkeiten in wahrnehmbaren Zeitabläufen gesprochen. Es geht zum Beispiel darum, ob jemand absichtlich irgendwo einbricht und sich auch dagegen hätte entscheiden können. Es geht damit auch um das Nachdenken, also um etwas, das für die Neurologie bloß Aktivität in verschiedenen Hirnarealen ist. Ich wies meinen Biologen darauf hin, dass die Neurologie mit ihren Untersuchungen die philosophische Frage keinesfalls beantwortet habe. Er erwiderte, die Philosophie stelle die Frage eben falsch.

Das ist zwar lustig, hindert aber einige Neurologen nicht daran, nun alle Strafen abschaffen zu wollen, da ja niemand für seine Taten verantwortlich gemacht werden könne. Diese Forderung stellte mein Biologe nicht, weil sein Selbstbild mit einem Fuß fest auf der Grundlage steht, dass er vieles besser tut als andere Menschen.

Es ist ja auch praktisch so zu leben, als gäbe es einen Freien Willen. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen durch äußere Reize wie Verlockung und Drohung, Lohn und Strafe beeinflussbar sind. Mir ist es recht, wenn es dabei bleibt. Aber bin ich frei, das oder etwas anderes zu sagen? Auch das Sprechen besteht ja aus Muskelkontraktionen.

Wie ich die Sache sehe, sind wir ein Produkt des Zusammenspiels unserer Anlagen, die man zur Zeit „Gene“ nennt, und unserer körperlichen und seelischen Erfahrungen. Wir neigen zu bestimmten Gedanken und Handlungen. In konkreten Umständen ist unser Handeln ein Produkt dieser Umstände, jener Neigungen, die sich im Laufe unseres Lebens auf Grund unserer Erfahrungen natürlich ändern, und einer gewissen Portion Zufalls. Ich sehe da keinen Raum für Freiheit. Wenn ich mein Nachschlagewerk richtig verstehe, hat Immanuel Kant das sehr ähnlich gesehen und sich mächtig gewunden, um die Idee der Willensfreiheit zu retten, an der er offenbar hing.

Der kulturbeflissene Ingenieur, mit dem ich nach dem Biologen sprach, bezog, anders als jener, die vorgeblichen Forschungsergebnisse auf sich persönlich und beharrte emphatisch auf dem Freien Willen. Für ihn war es klar, dass er sich frei entscheiden konnte, weil er spüren konnte, wie er sich entschied, weil er sich dessen bewusst war, ganz gleich was irgendwelche Wissenschaftler sagen.

Hier schien mir eine Verwechslung vorzuliegen, die vielleicht nicht selten geschieht. Mein Ingenieur verteidigte in seiner Rede weniger seine Freiheit als sein Bewusstsein, die Überzeugung, dass er jemand sei. Folgerichtig ging es im weiteren Verlauf des Gesprächs um die Frage, ob Maschinen, bei denen man ein Bewusstsein feststellte, bisher für Menschen reservierte Rechte zugestehen sollte. Beides, Bewusstsein und Rechte, ist aber heute nicht mein Thema.

 

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